Was Armut mit Kindern macht – Und wie sehr sie prägt
Wie ein Kind sich selbst sieht, ist erheblich von seinem sozialen Status abhängig. Was Armut dabei mit Kindern macht, zeigt sich früh in einem negativen und unterschätzten Selbstbild. Das schränkt notwendig Chancen und Möglichkeiten von betroffenen Kindern immens ein, überhaupt akademische oder berufliche Erfolge zu erreichen.
Armut & Selbstvertrauen
Die familiäre und finanzielle Situation, in der ein Mensch aufwächst, prägt seine Persönlichkeit und beeinflusst seine Sicht auf die Welt.
Kinder aus privilegierten Verhältnissen haben oft mehr Selbstvertrauen und eine weitaus positivere Selbstwahrnehmung als Gleichaltrige aus benachteiligten Verhältnissen.
Familienarmut zeichnet Kinder ein Leben lang
Wie Armut sich auf Menschen auswirkt, zeigt sich nicht erst im Alter, sondern schon bei kleinen Kindern. Während diejenigen aus Akademiker-Familien meist ähnliche Karrieren einschlagen, bleiben Kinder, die in Armut aufwachsen, meist auch im Erwachsenenalter armutsgefährdet. (vgl. Teufelskreis der Armut)
Selbstverständlich spielen hier viele verschiedene Aspekte eine Rolle: finanzielle Ressourcen, soziales Netzwerk, Wohngebiet, u.v.m.
Zum Beispiel werden Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund in KITA und Schule oft schlechter beurteilt. (vgl. Rassismus in der Schule und Rassismus unter Kindern)
Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere: Erwachsene und erst recht Kinder verinnerlichen Stigmatisierung und Diskriminierung; sie nehmen diese Erlebnisse als Zeichen persönlicher Schwäche und Minderwertigkeit wahr. Die Folgen betreffen nicht nur die weitere Kindheit und Jugend, sondern erstrecken sich auf das gesamte Leben eines Menschen. » Kindheit prägt das Leben
Vgl. auch: Fakten zu Kinderarmut 2023 – Überblick & zentrale Erkenntnisse sowie Kinder in Armut: ein Beispiel
Aufwachsen in Armut
Wenig Förderung, kein Selbstvertrauen
Studien belegen, dass die Gehirnentwicklung und die Entfaltung kognitiver Fähigkeiten entscheidend vom sozioökonomischen Status des Elternhauses abhängen. Bei vielen Kindern aus betroffenen Familien zeigten sich Beeinträchtigungen in Sprache, Arbeitsgedächtnis und Handlungsplanung.
Das Bemerkenswerte an den Erkenntnissen der letzten Jahre: die Relevanz von Umwelteinflüssen. Denn selbst bei adoptierten Kindern ist nicht die genetische Veranlagung ausschlaggebend, sondern der soziale Status der Adoptiveltern.
Vgl. auch Kinderarmut erkennen – subtile Anzeichen
Die unmittelbaren Umwelteinflüsse prägen Kinder also weit mehr als gedacht!
“Die Gehirne armer Kinder entwickeln sich in ihrer anregungsarmen Umgebung offensichtlich nicht vollständig.” (Robert Knight, 2)
Tatsächlich befinden sich Kinder aus armen Familien in einer Umgebung, die im Durchschnitt weniger förderliche Impulse bietet. Unterschiedliche Studien zeigen, dass sie:
seltener lesen und spielen
bis zu ihrem 4. Geburtstag ca. 30 Millionen gesprochene Wörter weniger hören (als Kinder aus durchschnittlichen Haushalten)
ihr Vokabular nur halb so umfangreich ist (bei 3-Jährigen)
sich zu ungesund ernähren
häufiger Konzentrationsschwierigkeiten haben
(vgl. Konzentrationsübungen für Kinder, noch mehr Übungen findest du hier: Konzentration bei Kindern fördern).
Kinderarmut & ihre gesundheitlichen Folgen
Das soll natürlich nicht bedeuten, dass alle Kinder in prekären Lebenslagen krank oder gestört sind und Selbstwertprobleme entwickeln. » Selbstwertgefühl von Kindern stärken
Doch das Risiko für spätere Gesundheitsprobleme ist wesentlich größer als bei Gleichaltrigen in besseren Verhältnissen.
Und es wird armen Kindern ungleich schwerer gemacht, sich gesund entwickeln zu können und ihr individuelles Potenzial zu entfalten. Das bedeutet auch: Kinder in Armut müssen um ein Vielfaches mehr an Mut und Energie aufwenden, um diese sozialen Nachteile auszugleichen.
Vgl. Gesundheitliche Ungleichheit – Armut verursacht & verschlimmert Krankheiten
Was Armut aus Kindern macht
Langfristige Folgen für die Psyche
Armut erzeugt Stress. Und zwar jede Menge!
So ließen sich bereits bei jungen Kindern, die in Armut aufwachsen, zu hohe Stresswerte nachweisen. Permanenter Stress ist bei Kindern noch gefährlicher als bei Erwachsenen: er beeinflusst die aktuelle Leistungsfähigkeit sowie die weitere Entwicklung schwerwiegend. Vgl. 5 Entwicklungsbereiche von Kindern
“Die neuronale Antwort ähnelt der von Menschen, bei denen ein Teil des Frontallappens durch einen Schlaganfall zerstört ist” (Kishiyama, 2)
Hinzu kommen mangelnde oder falsche Ernährung und belastende Umweltfaktoren, die auf die Psyche betroffener Kinder einwirken. Das alles hat erhebliche Auswirkungen darauf, wie ein Kind in Leistungssituationen auftritt oder in sozialen Kontexten agiert.
Armut erzeugt Minderwertigkeitsgefühle
Es ist erschreckend, wie schnell sich negative Glaubenssätze und Minderwertigkeitsgefühle schon bei kleinen Kindern einnisten. So ergaben Untersuchungen, dass bereits die Jüngsten Gefühle der Verzweiflung und Wertlosigkeit entwickeln, wenn sie in prekären Verhältnissen aufwachsen müssen.
Vgl. auch gefühlte Armut – mittellos, diskriminiert & stigmatisiert
Armut als persönliche Niederlage
Kindern erscheint Armut als selbstverständlicher und unveränderlicher Prozess. Sie erleben Armut als ein Schicksal, aus dem sie sich nicht befreien können.
Leider beginnt diese Erfahrung bereits im Kindergarten und setzt sich während der Schulzeit weiter fest.
Gehirn merkt sich Armut das ganze Leben
Armut vermindert die Stressresilienz sogar, wenn aus den betroffenen Kindern längst Erwachsene geworden sind. Nicht einmal ein sozialer Aufstieg oder ein hohes Einkommen können die Stressanfälligkeit bei Betroffenen wieder auf ein normales Level senken:
"Der durch Armut verursachte emotionale Stress in der Kindheit dürfte das Gehirn nachhaltig beeinflusst haben" (2).
Kinderarmut & Selbstbild
Oft heißt es, Bildung befreie aus der Armut. Doch Untersuchungen zeigen, dass es wesentlich auf das eigene Selbstbild und Verhalten ankommt, um durch Bildung erfolgreich zu werden: wer nicht von den eigenen Fähigkeiten und Talenten überzeugt ist, tut sich bekanntlich schwer.
» Mehr erfahren: Kinderarmut: Bildung bietet keinen Schutz
Genauso verhält es sich bei jungen Studierenden, die aus armen Familien stammen:
Sie halten sich selbst für weniger talentiert und fähig,
was sich negativ auf ihre akademischen Leistungen auswirkt
und sie daran hindert, sich im akademischen Bereich zu engagieren (Networking, AGs, Praktika)
Hintergrund: Sozialer Habitus nach Bourdieu
Der französische Sozialphilosoph Bourdieu betonte, dass die gesellschaftliche Stellung eines Individuums nicht nur durch sein materielles Kapital bestimmt wird, sondern auch durch das Selbstverständnis.
Im Laufe der Sozialisation werden die äußeren Lebensumstände zu einem inneren Glaubenssystem umgewandelt, das eine Art verinnerlichte Sozialstruktur darstellt. Auf diese Weise spiegelt sich die gesellschaftliche Lage einer Person auch in ihrem Verhalten, ihren Einstellungen und Werten wider.
Das ist auch der Grund, warum trotz Bildungsexpansion sich relativ wenig Studierende aus benachteiligten Familien an den Universitäten finden. Diejenigen, die es dorthin schaffen, berichten häufig, dass sie sich im universitären Kontext unwohl und fremd fühlen. Das wirkt sich negativ auf ihre Chancen aus, wichtige Kontakte zu knüpfen, an Wettbewerben oder weiterführenden Bildungsangeboten teilzunehmen.
Weitere Hintergründe für das mangelnde Selbstvertrauen sind schnell nachzuvollziehen: Betroffene wachsen mit Eltern auf, die kein Hochschulstudium abgeschlossen haben. Sie haben daher nie gelernt, wie man sich an der Universität verhält. Sie wurden mit kulturellen Werten, Habitus und Kenntnissen sozialisiert, die sich von der vorherrschenden Kultur an Universitäten unterscheiden.
Hinzu kommt die Diskriminierung im akademischen Umfeld selbst, wie oben bereits erwähnt. Kinder, Schüler oder Studierende mit niedrigem sozioökonomischem Status werden von Lehrkräften als weniger intelligent und kompetent wahrgenommen, eben weil ihr Hintergrund und Auftreten nicht dem prototypischen Bild entspricht.
Betroffenen wird also im Bildungskontext immer wieder vermittelt, dass sie nicht gut genug sind.
Ein Strukturwandel ist überfällig
Wir brauchen viel mehr Lehrkräfte an Schulen / Hochschulen, die nicht aus elitären Elternhäusern stammen und damit einen wirklichen Bezug zur Lebenswirklichkeit ihrer Schülerschaft herstellen können.
Denn Klassismus kann nur durchbrochen werden, wenn der Bildungssektor den negativen Blick auf betroffene Familien und Kinder endlich ablegen lernt.
Ausblick: Was Armut mit Kindern macht
Aus den letzten Jahrzehnten sollten wir gelernt haben, dass Geld allein nicht gegen Kinderarmut hilft. Finanzielle Familienhilfe ist notwendig (vgl. Geld hilft gegen Armut), doch brauchen wir zusätzliche und hochwertige Angebote außerhalb der Familie.
Schließlich sind viele Eltern überfordert – einerseits, weil kaum Geld da ist, andererseits, weil es ihnen selbst an Bildung oder Ressourcen fehlt.
Mehr Kitas, mehr Kindergärten, mehr Schulen und mehr Bildungsangebote können Abhilfe schaffen. Das aber nur, wenn sie auch qualitative Standards erfüllen, die Familien und Kinder nachhaltig für die Zukunft stärken.
vgl. auch Kindergrundsicherung – Ein Weg aus der familiären Armut
Vgl. auch Was ist Armut? (Philosophie) – Und warum ist sie ein Problem?
Quellen:
1) Christina Bauer, Veronika Job und Bettina Hannover: Who Gets to See Themselves as Talented? Biased Self-Concepts Contribute to First-Generation Students’ Disadvantage in Talent-Focused Environments. Journal of Experimental Social Psychology (2023) DOI: 10.1016/j.jesp.2023.104501
2) Christian Wolf: Macht Armut dumm? In: Gehirn & Geist 2009
3) Sebastian Scholz: Kinderstudie: Jugend ist oft hoffnungslos und ohne Selbstbewusstsein
4) Anika Mahla, Frank Bliss und Karin Gaesing: Wege aus extremer Armut, Vulnerabilität und Ernährungsunsicherheit. Begriffe, Dimensionen, Verbreitung und Zusammenhänge. AVE-Studie 1/2017
5) Birgit Hofmann: "Kinder aus armen Haushalten haben ein geringes Selbstbewusstsein". Interview mit Prof. Klaus Hurrelmann in: Südkurier vom 01.08.2018