Bildungsexpansion – mehr Bildung ist nicht die Lösung

Mehr Bildung ist keine Bildungsgerechtigkeit. Im Gegenteil: Die Bildungsexpansion zementiert Ungleichheiten in Deutschland sogar und täuscht über andere wichtige Probleme hinweg.

Hilft mehr Bildung wirklich?

Bildung soll zur Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung ermächtigen. Und obendrein auch noch alle Probleme unserer Zeit lösen.

 

Was bringt Bildung?

Egal ob Umweltschutz, Migration, Rechtsextremismus, Digitalisierung, Armut oder Corona-Pandemie – immer wenn gesellschaftliche Missstände zur Sprache kommen, wird von allen Seiten nach "mehr Bildung" gerufen.

Doch nicht, weil Bildung ein Selbstwert ist (und damit ein universales Grundbedürfnis bzw. Menschenrecht), sondern weil der Bildung ein praktischer, konkreter Nutzen unterstellt wird:

Immer, wenn man nicht mehr weiterweiß, kommt Bildung ins Spiel. Sie ist ein Lückenfüller. Und das ist völlig absurd.

schreibt Aladin El-Mafaalani, einer der bekanntesten Soziologen und Bildungswissenschaftler Deutschlands, in seinem Buch “Mythos Bildung” (1).

Der Wissenschaftler spricht hier einen ganz wichtigen Punkt an: Ein Mehr an Bildung sorgt nicht für mehr Gerechtigkeit.

Denn mehr Bildung bedeutet nicht Bildungsgerechtigkeit, sondern ist einfach nur Bildungsexpansion. Und die hat nichts mit sozialem und fairem Ausgleich zu tun, sondern verstärkt nur die herrschende Bildungsungleichheit in Deutschland.

 

Definition Bildungsexpansion

  • Bildungsexpansion beschreibt den Prozess, immer mehr Menschen den Zugang zu formalen Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten) zu ermöglichen.

  • Die Bildungsexpansion wird oft als wichtiger Faktor für individuellen und gesellschaftlichen Fortschritt angesehen.

  • Der Grund: Bildung kann dazu beitragen, die Chancen und Perspektiven der Allgemeinbevölkerung zu verbessern und die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.

 

Was ist Bildungsgerechtigkeit?

Bildungsgerechtigkeit bedeutet, allen Menschen – unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht oder anderen Kriterien – Chancen auf eine angemessene Bildung zu gewähren.

Ziel der Bildungsgerechtigkeit ist es, Benachteiligungen abzubauen und gleiche Bildungschancen für alle zu schaffen.

Das heißt konkret:

Alle sollten Zugang zu qualitativ hochwertigen Bildungsinstitutionen und -programmen haben.

Vgl. auch Kinderarmut erkennen – subtile Anzeichen

 

Bildungsgerechtigkeit ist weit mehr als Wissensvermittlung

Sie beinhaltet auch, dass gerade benachteiligte Menschen gefördert werden und Unterstützung erhalten, um ihr Potenzial vollständig ausschöpfen zu können.

Auf diese Weise lassen sich Bildungsunterschiede zwischen unterschiedlichen Gruppen und Schichten der Gesellschaft verringern.

 

Warum Bildung wichtig ist

Was Bildung genau bedeutet, unterscheidet sich je nach Fachwissenschaft und ihrem jeweiligen Schwerpunkt. So lässt sich Bildung im wirtschaftlichen Sinne als Humankapital verstehen, welches zur Entwicklung eines Landes notwendig ist. Doch Bildung auf einen Nutzen-Kosten-Faktor zu reduzieren, greift nach philosophischem Verständnis viel zu kurz.

In der Philosophie versteht man Bildung als einen Prozess der geistigen und moralischen Entwicklung. Sie ist ein Selbstzweck. Das Ziel von Bildung ist es, dass sich der Mensch im Laufe seines Lebens stetig weiterentwickelt und sein individuelles Potenzial entfaltet.

 

Selbstentfaltung & soziale Teilhabe

Bildung umfasst also nicht nur die Aneignung von Wissen, sondern auch die Entfaltung von Fähigkeiten, die es dem Menschen ermöglichen, seine Welt kritisch zu reflektieren und aktiv an ihr teilzunehmen. Bildung im philosophisch-soziologischen Sinne ist eine Bedingung, damit jede:r Einzelne zu einem mündigen Mitglied der Gesellschaft wird.

 

Die Bildungsexpansion & ihre Folgen

Um zu begreifen, was in der Bildungspolitik und ihrem Fokus auf die Bildungsexpansion eigentlich falsch läuft, ist Wissen über die Veränderungen im Bildungssystem der letzten Jahrzehnte notwendig.

Im Vergleich zu den 1960er Jahren besuchen fast dreimal so viele Schüler:innen das Gymnasium. Auch hat sich seitdem die Zahl der Studierenden mehr als verzehnfacht, heute liegt sie bei knapp 3 Millionen in Deutschland. “Damit hat sich die Zahl der Studierenden in 20 Jahren um mehr als 1,1 Millionen bzw. um 63,6 % erhöht." (Bundeszentrale für politische Bildung, 3).

Das mag im ersten Moment positiv klingen, tatsächlich scheint es aber nur so. Denn die Bildungsexpansion fördert Paradoxien zu Tage, die sich nachteilig auf unsere Gesellschaft auswirken. Mehr erfahren: Kinderarmut: Bildung bietet keinen Schutz

 

Paradox 1 der Bildungsexpansion:

Das Wissensniveau steigt, aber niemand sieht es

In den letzten Jahren häufen sich die Stimmen (meist von Lehrkräften, Professoren und Pädagogen, aber auch von Eltern), dass die Kinder und Studenten von heute wesentlich leistungsschwächer seien als frühere Jahrgänge.

Gleichzeitig belegen jedoch unabhängige Studien, dass wir heute tatsächlich über viel mehr Wissen verfügen. Kinder und Studenten sind heute nicht unbedingt klüger (das Gegenteil behauptet der umstrittene Flynn-Effekt), aber sie besitzen mehr Wissen als frühere Generationen.

Aber wie kommt es dann, dass so viele pädagogische Fachkräfte über ein gesunkenes Niveau klagen?

El-Mafaalani sieht die Ursache in der Bildungsexpansion: Dank ihr verlassen mehr fleißige Schüler:innen die Hauptschule und finden den Weg zur Realschule. In den Hauptschulen verschlechtert sich dann das Durchschnittsniveau, weil die Besten weg sind.

Das bedeutet: Natürlich ist das Niveau auf der Hauptschule jetzt niedriger als noch vor 10 Jahren. Doch heißt das nicht, der gesamte Jahrgang von Schülern sei schlechter, die Schülerschaft hat sich nur anders auf die verschiedenen Schulformen verteilt.

Das gleiche Prinzip gilt für andere Schulen, wie Realschule oder Gymnasium, sowie für Bildungsinstitutionen: Wandern die guten Realschüler aufs Gymnasium ab, sinkt auch das Niveau in der Realschule. Gleichzeitig sinkt auch das Niveau auf den Gymnasien, auf die heute 3-mal so viele Schüler gehen wie vor 50 Jahren. Und so weiter und so fort…

 

Paradox 2 der Bildungsexpansion:

Bildungsabschlüsse werden immer wichtiger, verlieren aber an Wert

Abschlüsse im Bildungssystem sind so etwas wie Währungseinheiten. Sie verlieren durch die Bildungsexpansion an Wert, genauso wie Geldscheine in der Inflation. Das bedeutet, dass die höheren Grade (Master, Diplom, Doktor) von zunehmender Bedeutung sind, aber die niedrigeren Abschlüsse (Haupt- und Förderschulabschluss) auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr geschätzt werden.

Diejenigen, die heute ohne oder mit einem Hauptschulabschluss die Schule verlassen, haben es wesentlich schwieriger als früher.
— El-Mafaalani (1)

Arbeitgeber und Unternehmen erwarten durch die Bildungsexpansion mehr von ihren Angestellten. Sie möchten Menschen mit höheren Bildungsgraden beschäftigen. Und das, obwohl das Bildungsniveau im Gesamtdurchschnitt Deutschlands gestiegen ist.

 

Paradox 3 der Bildungsexpansion:

Soziale Benachteiligung nimmt zu, obwohl die Bildungschancen steigen

Generell ist es so, dass in kaum einem anderen europäischen Land der Erfolg im Bildungssystem so sehr vom Elternhaus abhängig ist wie in Deutschland.

Vgl. Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund

Um ein gerechteres System zu schaffen, kommt der Ausweitung des Bildungsangebots viel Gewicht zu.

Mehr Bildung ist aber nicht mit fairen Bildungschancen gleichzusetzen. El-Mafaalani liefert ein anschauliches Beispiel (1):

Stellt euch vor, man würde das Einkommen aller verdoppeln. Die Professorin, die vor dieser Gehaltsexplosion 7.500 Euro brutto bekam, verdient nun 15.000 Euro. Ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter erhält statt 4.000 Euro nun 8.000 Euro und die Sekretärin steigert ihr Gehalt von 2.500 Euro auf 5.000 Euro.

Alle 3 Schichten sind also gleichmäßig gefördert worden, anstatt die Verteilung neu zu ordnen und damit gerechter zu machen. Auf diese Weise werden aber die Nachteile von “Arbeiterkindern” gegenüber “Akademikerkindern” nicht abgebaut, sondern einfach beibehalten.

Machen alle Kinder und Jugendliche bessere Abschlüsse, bleibt die Differenz zwischen den sozialen Schichten gleich. Noch schlimmer: werden höhere Abschlüsse wertvoller, dann wächst das Gefälle an sozialen Ungleichheiten zwischen den Gruppen weiter an.

 

Mehr Bildung bedeutet nicht, mehr Bildungsgerechtigkeit

Die Bildungsexpansion hat im Grunde diejenigen abgehängt, die ohnehin schon benachteiligt waren: Kinder aus Familien mit geringen Bildungsmöglichkeiten.

El-Mafaalani stellt fest (1):

Wie kaum ein anderer betont der deutsche Sozialstaat soziale Sicherheit im Sinne eines Absicherns des Status quo. Wer viel verdient hat, soll ein höheres Arbeitslosengeld und insbesondere eine höhere Rente bekommen. Damit konserviert der Staat soziale Ungleichheit. Er schafft damit das Gegenteil eines sozialen Ausgleichs.

Und das Problem wird größer.

Sicher ist Bildungsgerechtigkeit auch keine hinreichende Lösung, um die sozialen Verhältnisse in Deutschland zu verbessern. Doch ist sie ein notwendiger Baustein für eine langfristige Verbesserung sozialer Probleme.

 

Ist die heutige Jugend dümmer?

Klagen über eine Jugend, die an Intelligenz, Respekt und Tugenden verloren hat, gibt es schon seit Urzeiten.

So zum Beispiel schon 3000 v. Chr. von den Sumerern: „Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte“ (4)

Schriftliche Zeugnisse, mit ähnlichem Inhalt, gibt es auch aus den nachfolgenden Jahrhunderten zuhauf. Am bekanntesten dürfte das Zitat des Sokrates sein: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.”

Tatsächlich gibt es überhaupt keine Beweise, dass die heutigen Kinder weniger können als frühere Generationen. Gustav Keller (5) führt 6 Punkte an, die plausibel erklären, warum Erwachsene so ein schlechtes Bild von der Jugend haben:

1) Die Komplexität der Welt hat zugenommen

die Anforderungen steigen. “In den letzten 150 Jahren exponentiell" (5). Doch die Anpassungsfähigkeit des Menschen verläuft langsamer. So scheinen viele Erwachsene durch ihre Ungeduld nicht zu verstehen, dass individuelle Entwicklung bei höheren Anforderungen auch ausreichend Zeit benötigt.

2) Erwachsene unterliegen ihren Idealvorstellungen

(Kind muss gut in der Schule sein, Kind muss Leistung bringen, Kinder dürfen keine Probleme machen).

3) Viele Erwachsene projizieren

die eigenen Fehler und Schwächen auf Kinder. Denn auch sie begehen Fehler, sind mal faul oder brechen bewusst Regeln.

4) Erwachsene verklären

ihre Vergangenheit und halten die eigene Generation für besser, als sie tatsächlich war.

5) Die öffentliche Berichterstattung und die sozialen Medien

thematisieren heutzutage die Jugend weitaus mehr, als früher. Auf diese Weise wirken “Probleme” oft schlimmer und negativer als sie eigentlich sind.

6) Erwachsene verschleiern durch Jugendkritik

ihre eigene Verantwortung und Schuld. „Unsere Bildungspolitik zeigt sich an den PISA-Ergebnissen der Schüler. Unsere Erziehungsfehler kehren wieder in Form ihrer Lernprobleme (der Jugendlichen). Unser Hedonismus widerspiegelt sich unweigerlich in ihrer Faulheit (der Jugendlichen). Unser hektischer Lebensstil drückt sich in ihrer Unruhe und Unaufmerksamkeit aus (der Jugendlichen). Das Klagelied vom schlechten Schüler ist zum Großteil Selbstanklage.“ (Keller, 5)

 

Fazit: Bildungsexpansion

Bildung allein hält Menschen nicht davon ab, rechtsextremistische Parteien zu wählen oder die Umwelt zu schädigen. Doch in Verbindung mit anderen Maßnahmen ist die Bildungsförderung ein relevanter Faktor für Chancengleichheit und Armutsbekämpfung.

Vgl. Kinderarmut Definition

Allerdings muss sie auf richtige Art und Weise umgesetzt werden. Eine ziellose Bildungsexpansion ist jedenfalls nicht der richtige Weg – da sie vor allem diejenigen fördert, die ohnehin schon einen Zugang zum Bildungssystem besitzen, und die Menschen ausschließt, die am meisten auf eine qualifizierte Bildung angewiesen sind.


Quellen:

1) Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung, Kiepenheuer & Witsch, 2020
2) Georg Cremer: Die Mittelschicht will gar keine Bildungsgerechtigkeit
3) Bundeszentrale für politische Bildung: Studierende – Soziale Situation in Deutschland – Bildung, Forschung und Entwicklung
4) Achim Gilfert: 5000 Jahre Kritik an Jugendlichen – Eine sichere Konstante in Gesellschaft und Arbeitswelt
5) G. Keller: Die Schülerschelte. Leidensgeschichte einer Generation. Reihe Pädagogik, Band 52, Herbolzheim, Centaurus Verlag & Media UG 2014

Tamara Niebler

Tamara ist studierte Philosophin (Mag. phil.) & freie Journalistin in München. Sie unterstützt unsere Redaktion mit jeder Menge Fachwissen und kritischen Denkanstößen. Tamaras Motto: „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka)

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