Klassismus in Deutschland – Kampf gegen Arme statt Armut
Klassismus macht einen sozialen Aufstieg in Deutschland fast unmöglich. Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status werden stark benachteiligt – auf allen Ebenen: Bildung, Arbeit, Wohnraum, medizinische Versorgung, Lebensqualität.
Solidarisch gegen Klassismus
Klassismus ist in Deutschland weit verbreitet. Bekommt aber wenig Aufmerksamkeit.
Klassismus ist ein unterschätztes Problem
Zwar machen politische Debatten den Kampf gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit immer wieder zum Thema, doch gleichzeitig ist die Diskriminierungsform “Klassismus” relativ unbekannt.
Viele Menschen wissen nicht, dass Personen auch aufgrund ihrer sozialen Herkunft diskriminiert werden. Das ist nicht zwingend auf Ignoranz zurückzuführen, sondern schlichtweg auf mangelnde Aufklärung.
Bildungsmöglichkeiten, Wahl des Arbeitsplatzes, Wohnen, Familienplanung, Gesundheitsversorgung und soziales Netzwerk – die Auswirkungen von Klassismus sind dramatisch für das Leben Betroffener und beeinträchtigen alle Lebensbereiche.
Definition – Was bedeutet Klassismus?
Klassismus bezieht sich auf die Diskriminierung, Vorurteile oder die Ungleichbehandlung von Personen aufgrund ihrer sozialen Klasse bzw. ihres ökonomischen Status. Damit verschränkt sind Hierarchien, die einem wirtschaftlichen Machtgefälle und sozialer Ungleichheit fußen.
Kurzum:
Wenn Menschen wegen ihrer sozialen Klasse bewertet, ausgegrenzt oder benachteiligt werden, ist das Klassismus.
Dabei umfasst das Wort “Klasse” verschiedene Dimensionen:
Einkommen
Bildungsniveau
Beruf oder beruflichen Status
sozialer Hintergrund
Besitz von Vermögenswerten
Zugang zu Ressourcen
Klassismus geht eng mit anderen Formen der Diskriminierung einher, wie Rassismus, Sexismus oder Ableismus. Diese verstärken einander und stützen so das komplexe System von sozialen Ungerechtigkeiten.
» Was ist Armut? (Philosophie) Und warum ist sie ein Problem?
» Fakten zu Kinderarmut 2023 – Überblick & zentrale Erkenntnisse
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Klassismus in der deutschen Politik
Es herrscht eine lange Tradition in der deutschen Spitzenpolitik, Menschen in Armut abzuwerten, völlig unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Dieses Verhalten hat sich leider über die Jahre fortgesetzt. Im Folgenden ein paar Beispiele von vielen:
CDU – Helmut Kohl: "Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren." (1993)
CDU – Wolfgang Schäuble: "Mehr Eigenverantwortung des Einzelnen, weniger soziale Hängematte." (1994)
FDP – Daniel Bahr: „In Deutschland bekommen die Falschen die Kinder. Es ist falsch, dass in diesem Land nur die sozial Schwachen die Kinder kriegen.” (2005)
SPD – Kurt Beck: "Wenn Sie sich waschen und rasieren, finden Sie auch einen Job." (2006)
Die Grünen – Oswald Metzger: „Viele Sozialhilfeempfänger sehen ihren Lebenssinn darin, Kohlenhydrate oder Alkohol in sich hineinzustopfen und vor dem Fernseher zu sitzen.“ (2007)
SPD – Franz Müntefering: „Wer arbeitet, muss was zu essen haben, wer nicht arbeitet, braucht nichts essen.“ (2008)
SPD – Thilo Sarrazin: "Ehe jetzt einer im 20. Stock sitzt und den ganzen Tag nur fernsieht, bin ich schon fast erleichtert, wenn er ein bisschen schwarz arbeitet." (2008)
CDU – Josef Schlarmann: „Etwa ein Drittel der Arbeitslosen will gar nicht arbeiten. Sie haben sich damit abgefunden, leben gut, und wer schwarz arbeitet, lebt sogar sehr gut.“ (2009)
CDU – Philipp Mißfelder: „Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie.“ (2009)
FDP – Guido Westerwelle: "Es scheint in Deutschland nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemanden, der das alles erarbeitet. (...) Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein." (2010)
CDU – Jens Spahn: “Hartz IV bedeutet nicht Armut.” (2018)
Woher diese Vorurteile stammen, wird deutlich, wenn wir uns ansehen, aus welchen Milieus viele Abgeordnete stammen: Bereits seit Jahrzehnten besteht das Parlament zu ca. 80 % aus Akademikern (9). 2023 hat sich nichts geändert: gerade mal 8,9 % der Mitglieder besitzen keine Hochschulreife (8).
Falsche Vorstellungen & Vorurteile über arme Menschen
Wir besitzen in der Alltagssprache viele abwertende Bezeichnungen für Menschen, die in Armut leben müssen: sozial schwach, Hartzer, Proll, Unterschichtenfernsehen, Sozialschmarotzer, Wirtschaftsflüchtlinge…Diese Beschreibungen tragen zur Stigmatisierung bei, indem sie Geringschätzung und Abwertung von Betroffenen sprachlich verorten.
In der öffentlichen Wahrnehmung sind viele Hartz-IV-Empfänger als „faul“ abgestempelt, individuelle Umstände und Bemühungen werden dabei völlig ignoriert. Diese Vereinfachung ist nicht nur ungerecht, sondern auch unproduktiv und verhindert eine differenzierte Diskussion über die tatsächlichen Lebenswirklichkeiten betroffener Menschen.
Als wäre das nicht schon genug, ist auch noch über die Hälfte der deutschen Bevölkerung davon überzeugt, dass Langzeitarbeitslose kein wirkliches Interesse daran haben, eine Anstellung zu finden (10).
Eine signifikante Anzahl der Deutschen scheint also davon auszugehen, dass Langzeitarbeitslosigkeit eine Art "Lifestyle-Entscheidung" ist, anstatt einer prekären Lebenssituation. Diese Vorstellung steht im krassen Gegensatz zur Realität vieler betroffener Menschen, die täglich von vielfältigen Sorgen belastet sind und sich um einen Job bemühen.
Das Thema Kinderarmut sorgt zwar immer wieder für rege Diskussionen, doch analysieren wir die Situation genauer, wird klar, dass Kinder nicht in Armut leben müssten, wenn ihre Eltern nicht betroffen wären.
Nicht nur Kinder benötigen dringend eine umfängliche Unterstützung, sondern auch Eltern, Erwachsene und Senioren.
Arbeit & Fleiß retten niemanden aus der Armut
Gerade der letzte Punkt hat es in sich und mündet in einer moralischen Anklage. Menschen, die in Armut leben, sollen selbst dafür verantwortlich sein. Würden sie hart arbeiten, wären sie nicht in dieser misslichen Lage.
Ganz nach dem Motto: Jeder bekommt das, was er verdient.
Allerdings beweisen Studien das genaue Gegenteil: Eine harte Arbeitsethik reicht längst nicht aus, um sich vor Armut zu schützen oder aus Armut zu befreien. Auch die starke Betonung von Bildung für den sozialen Aufstieg greift zu kurz (vgl. Bildungsexpansion).
Denn Vorurteile und Diskriminierung in der Erwachsenenwelt werden oft auf Kinder übertragen (vgl. zum Beispiel Rassismus in der Schule). So finden sich ausgerechnet im Bildungssystem vielfältige Mechanismen und Muster, die zu einer allgemeinen Bildungsdiskriminierung führen. » Mehr erfahren: Kinderarmut: Bildung bietet keinen Schutz
Verdeckter Klassismus im Bildungssystem
Welche Hürden Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus benachteiligten Milieus überwinden müssen, wird in der Soziologie schon länger diskutiert. Zum einen gilt es familiäre Widerstände zu meistern, denn viele betroffene Kinder werden aus den unterschiedlichsten Gründen (falscher Weg, kein Geld, Angst vor Enttäuschung, Unwissenheit) von ihren Eltern davon abgehalten, eine höhere Schule zu besuchen.
Darüber hinaus tendieren Lehrkräfte häufiger dazu, Schüler aus prekären Lebensverhältnissen auf Real- oder Hauptschule zu schicken, selbst wenn diese das Potenzial für das Gymnasium aufweisen.
Es gibt kaum soziale Mobilität in Deutschland
In Deutschland ist die soziale Mobilität schon seit Jahren rückläufig. Das bedeutet, es wird immer schwieriger, sich in der sozialen Klasse nach oben zu kämpfen.
Gelingt es aller Widrigkeiten zum Trotz, wird oft die eigene Leistung dafür verantwortlich gemacht. Das allein macht allerdings keine Erfolgsgeschichte aus: in der Regel gab es Vorteile, die für andere nicht verfügbar sind (1).
Wenn allein die Leistung zählen würde, müssten Eltern ihren Kindern lediglich beibringen, schön fleißig zu sein. Dann würde der Erfolg ganz von selbst folgen. So ist es aber nicht. Vielmehr sind diejenigen Kinder am erfolgreichsten, die gefördert werden, Vitamin B (Soziales Netzwerk) mit eingeschlossen.
Zu viel Ungerechtigkeit & Ungleichheit
Wir können natürlich darüber diskutieren, ob es in den USA oder in Russland schlimmer ist als in Deutschland. Das ist in etwa das Gleiche, als würden wir absolute Armut und relative Armut gegeneinander ausspielen, obwohl beide Phänomene in einem unterschiedlichen Kontext angesiedelt sind.
Ungerechtigkeit bleibt Ungerechtigkeit. Das lässt sich nicht kleinreden.
Fakt ist, dass hierzulande eine wachsende Ungleichheit besteht, die Millionen von Menschen die Chance auf ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben nimmt.
Armut ist eine psychische & körperliche Belastung
Wie sehr Armut einen Menschen belastet, zeigt exemplarisch eine Studie von 2013. Die Forscher stellten indische Bauern vor spezifische Aufgaben und machten eine seltsame Beobachtung: Vor der Ernte zeigten die Bauern eine deutlich schlechtere Leistung in den Tests. Interessanterweise schnitten die Bauern bei den Tests nach der Ernte genauso gut ab wie Menschen mit einem höheren Einkommen.
Nach weiterer Forschung wurde klar, dass die Bauern vor der Ernte durch finanzielle Sorgen abgelenkt waren. Würden genug Helfer für die Ernte zur Verfügung stehen? Welcher Verkaufspreis sollte für das Zuckerrohr festgelegt werden? Würde das Geld ausreichen, um das Schulgeld der Kinder im nächsten Jahr zu zahlen? Sollte vielleicht das Fahrrad verkauft werden? Wo und wie einen Käufer finden? etc. pp.
Die psychische Belastung durch Armut ist also so massiv, dass sie viel mentale Kapazitäten verschlingt. Da ist es fast unmöglich, sich auf die grundlegende Verbesserung des eigenen Lebens zu konzentrieren und kluge Pläne zu schmieden, um sich weiterzubilden. Vgl. auch Was Armut mit Kindern macht
Fazit: Klassismus in Deutschland
Unsere Gesellschaft diskriminiert Bürger und Bürgerinnen mit geringem sozioökonomischen Status. Nach wie vor auch im Bildungsbereich. Das alles zeigt, dass es in Deutschland immer noch gesellschaftliche Klassen gibt, die soziale Aufstiege ermöglichen oder verhindern.
Und das unabhängig von individuellen Leistungen.
Strukturelle Diskriminierung und Stigmatisierung aufgrund der sozialen Herkunft sind keine Naturgesetze.
Sie lassen sich abbauen und vermindern. Doch dafür müssen wir als Gesellschaft verdeckten Klassismus erkennen und zusammen aktiv bekämpfen.
Quellen:
1) El-Mafaalani, Aladin: Vom Arbeiterkind zum Akademikerkind. Über die Mühen des Aufstiegs durch Bildung. Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin/Berlin 2014
2) Christina Bauer, Veronika Job und Bettina Hannover: Who Gets to See Themselves as Talented? Biased Self-Concepts Contribute to First-Generation Students’ Disadvantage in Talent-Focused Environments. Journal of Experimental Social Psychology (2023) DOI: 10.1016/j.jesp.2023.104501
3) FiKuS: Klassismus Einstiegsreader (PDF) » lesenswert
4) Wapman, K.H., Zhang, S., Clauset, A. et al. Quantifying hierarchy and dynamics in US faculty hiring and retention. Nature 610, 120–127 (2022). https://doi.org/10.1038/s41586-022-05222-x
5) Deutscher Bundestag: Soziale Mobilität in Deutschland. Studien und weitere Literatur. 2018 (PDF)
6) Bundeszentrale für politische Bildung: Bildungsaufstieg – (K)eine Frage von Leistung allein?
7) Friedrich-Ebert-Stiftung: Klassismus. Eine Bestandsaufnahme. Von Andreas Kemper, Landesbüro Thüringen, 2016
8) Deutscher Bundestag: Alters- und Sozialstruktur, Datenblatt 31.3.2022
9) Barbara Schmidt-Mattern: Deutschlands Akademiker-Parlament
10) Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld: Was ist gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit? Abwertung von Langzeitarbeitslosen (Internet Archive)