Kinderarmut: Bildung bietet keinen Schutz vor sozialer Ausgrenzung

Kinderarmut und soziale Ungleichheiten in Deutschland nehmen zu. Immer wieder wird Bildung als die zentrale Maßnahme gegen Ungleichheiten benannt, doch paradoxerweise ist es gerade das deutsche Bildungssystem, welches soziale Ausgrenzung reproduziert.

Bildung als Allzweckwaffe

Kinderarmut und Bildung

Politik und Medien halten weiterhin am Konzept der Bildungsexpansion fest, wenn sie einhellig Bildung als DIE LÖSUNG gegen Kinderarmut und soziale Ungleichheit bewerben.

Von anderen vielversprechenden Ideen, wie Umverteilung, gerechterer Entlohnung oder Steuerreformen, ist dagegen wenig zu hören.

So lässt die ausschließliche Fokussierung auf Bildung andere wichtige Maßnahmen der Armutsbekämpfung deutlich in den Hintergrund treten.

„Wer leistet, wird belohnt.“ – Das Narrativ verfehlt nicht seine Wirkung: Viele Menschen in Deutschland glauben, durch Ehrgeiz und Fleiß, ehrliche Arbeit und stetige Selbstoptimierung sei der soziale Aufstieg für jeden möglich.

Doch ist das wirklich so?

 

Einzelne Bildungsaufstiege sind keine gesellschaftliche Lösung

Es gibt sie ja wirklich, die traumhaften Aufsteiger- und Erfolgsgeschichten, die genau diesen neoliberalistischen Leitsatz zu belegen scheinen. Allerdings sind diese alles andere als neu und auch kein Verbesserungsbeweis. Denn individuelle Bildungsaufstiege als glückliche Einzelfälle gab es auch schon in früheren Jahrhunderten.

Eine solche Karriere hat zum Beispiel Heinrich Heine vorgelegt, der in seinen jungen Jahren lange mit existenziellen Problemen kämpfte, bis er seinen Durchbruch als Dichter feiern konnte. Oder Gerhard Hauptmann, Sohn eines Webers, lebte lange in ärmlichen Verhältnissen, bevor von seiner Schreibkunst überhaupt jemand Notiz nahm.

 

Weder fair noch gleich

Heute gibt es natürlich weitaus mehr Berichte und Geschichten über individuelle Erfolge durch Bildung. Doch sie bleiben im großen Vergleich weiterhin Einzelfälle. Und wenn man diese analysiert, wird auch klar, warum:

Fleiß und Talent reichen nicht. Stattdessen muss man zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, mit den richtigen Menschen in Kontakt kommen. Vgl. Sozialer Aufstieg durch Bildung – Die Opfer des ErfolgsVon einem fairen Leistungsprinzip oder dem Ideal der Chancengleichheit sind wir damit ganz weit entfernt. Vgl. auch: Warum arme Kinder arm bleiben

 

Mythos Bildungsmeritokratie

Bildung ist zwar ein wichtiger Motor, um Kinderarmut zu reduzieren, doch kein hinreichender. Schließlich gibt es genügend Menschen in Deutschland, die trotz guter Bildungsabschlüsse keine fair bezahlten Jobs finden und in der Armutsspirale gefangen bleiben (vgl. Armen Menschen sind deutsch, arbeitstätig und gut qualifiziert). Darunter nicht wenige mit höheren Bildungsabschlüssen. Folglich ist Bildung allein kein probates Mittel gegen Ungleichheit, Armut und soziale Ausgrenzung.

Diese Tatsache wird jedoch weitestgehend ignoriert. Die Aufstiegsmentalität ist in allen sozialen Schichten verbreitet. Doch gerade den ärmsten in unserer Gesellschaft wird suggeriert, dass es allein auf ihre Anstrengung, Selbstverantwortung und Selbstdisziplin ankomme.

Nach dieser Denkweise braucht man nicht die Gesellschaft, die Wirtschaft oder bestehende Privilegien zu verändern. Es wird stattdessen erwartet, dass die Einzelnen ihr eigenes Verhalten ändern und anpassen. Das ist nichts anderes als die Verschiebung sozialer Probleme auf die individuelle Ebene.

  • Die Bildungsmeritokratie ist ein gesellschaftliches Prinzip, das Bildung als Hauptweg für persönlichen und beruflichen Aufstieg betrachtet. In einer Bildungsmeritokratie sollen die individuellen Leistungen in Bildung und Ausbildung die Hauptfaktoren für den Erwerb von sozialem Status, beruflichen Chancen und Einkommen sein.

    Je mehr Bildung und Kompetenz eine Person nachweisen kann, desto höher sollte ihre Position in der Gesellschaft sein.

    Das Konzept setzt somit auf das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und verspricht Chancengleichheit durch Bildungszugang.

    Kritik an diesem Modell äußert jedoch häufig, dass es in der realen Welt zahlreiche soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren gibt, die den Bildungserfolg und damit die sozialen Aufstiegschancen beeinflussen.

 

Individualisierung sozialer Probleme

Die Betonung von Bildung lässt viele Menschen in Deutschland glauben, dass fehlende Ausbildungen und mangelnde Deutschkenntnisse (bei Migranten) die Haupt-Ursachen für Kinderarmut und soziale Ungleichheit wären. Tatsache ist jedoch, dass Geldmangel und materielle Unterversorgung auch bei Deutschen ohne Migrationshintergrund zu starken Benachteiligungen führen, die sich in eingeschränkten Bildungs- und Berufschancen niederschlagen.

 

Die Hervorhebung von Bildung ist eine Ablenkungsstrategie

Denn ohne die Umverteilung von Geld und Ressourcen ist es für betroffene Menschen kaum möglich, eine gute Bildung zu erreichen. Diese Umverteilung ist unter anderem notwendig, weil betroffene Kinder und Jugendliche auf öffentliche Schulen gehen, die adäquat mit Lehrmaterial und Lehrkräften auszustatten sind.

Wenn unsere Regierung fest davon überzeugt ist, dass Bildung Armut bekämpfen kann, dann müssen vor allem die öffentlichen Bildungseinrichtungen alles bieten, was ein Kind für seine Entwicklung braucht.

 

Beispiele für offensichtliche Hürden im System

  • Förderung von Privatschulen

  • Abschaffung der Lernmittelfreiheit

  • Schließung von Schulbibliotheken aus Kostengründen

  • Studiengebühren

Alles, was Kinder aus benachteiligten Familien daran hindert, eine höhere Bildung zu erreichen, reduziert die realen Möglichkeiten auf beruflichen Erfolg oder noch viel wichtiger: eine angemessene Existenzsicherung im späteren Leben. Vgl. auch Kinderarmut in Deutschland

 

Klassismus im Bildungssystem

Obwohl klar ersichtlich ist, dass mehr Bildungsangebote nicht zu weniger Ungleichheit in der Gesellschaft führen, wird nicht offen darüber gesprochen, warum ein kleiner Teil der Bevölkerung viel mehr Bildungsmöglichkeiten und Karrierechancen hat als der Großteil.

Von besonderer Begabung, sogar Hochbegabung ist dann die Rede, doch eigentlich handelt es sich um nichts anderes als ökonomische Macht, Geldadel und klassistische Privilegien.

Gerade im deutschen (wie auch im österreichischen) Schulsystem ist Bildung sicherlich kein Garant für soziale Gerechtigkeit. Richtig ist zwar, dass Kinderarmut eine gute Bildung oft verhindert. Das bedeutet jedoch nicht, dass gute Bildung vor Armut schützt oder aus Armut befreit. Schon gar nicht in einem Schulsystem, dass an den Werten, Idealen und Normen der oberen Gesellschaftsschichten ausgerichtet ist, an denen Betroffene kaum Anteil haben.

Vgl. Formen der Diskriminierung in der Schule, Rassismus in der Schule, Rassismus unter Kindern – Erklärungen & Tipps sowie Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund

 

Das Bildungsparadox (Qualifizierungsparadoxon)

Unter dem Stichwort „Bildungsparadoxon“ wird die widersprüchliche Situation zusammengefasst, dass trotz Zunahme von Bildungsmöglichkeiten und einem höheren Bildungsstand in der Bevölkerung die erwarteten positiven Auswirkungen ausbleiben. Statt der Verringerung von sozialer Ungleichheit oder der Verbesserung von Jobchancen werden die traditionellen Privilegien wohlhabender Schichten sogar noch verstärkt.

Aspekte des Bildungsparadoxons in Deutschland:

  1. Höhere Bildung, aber nicht unbedingt bessere Jobs

  2. Gleichbleibende soziale Ungleichheit

  3. Inflation von Bildungsabschlüssen

  4. Bildung bietet keine ökonomische Sicherheit

 

Kinderarmut bedeutet Unterversorgung

Armut wird von einer Generation auf die nächste vererbt. Kinder aus ärmeren Familien wachsen oft zu Erwachsenen heran, die selbst wenig Einkommen besitzen und diese Armut an ihre Kinder weitergeben. Ein Resultat der gesellschaftlichen und strukturellen Diskriminierung. Wichtig ist:

Für Kinder bedeutet Armut mehr als nur wenig Geld zu haben.

Kinder in Armut haben weniger Chancen, sich persönlich zu entwickeln und sind in vielen Lebensbereichen völlig unterversorgt. Das betrifft u. a. Bildung und Kultur, körperliche und psychische Gesundheit, Wohnen und Wohnumfeld, Freizeitmöglichkeiten usw.

Kinder, die in relativer Armut aufwachsen, stehen am Rand der Gesellschaft und bekommen das auch subtil zu spüren. Entsprechend schaffen es nur ganz wenige, von Bildung und Kultur so zu profitieren, dass sie ihr Leben selbstbestimmt gestalten können.

 

Bildungsgerechtigkeit braucht Umverteilung

Das eigentliche Problem der sozioökonomischen Ungleichheit liegt nicht darin, wie viel Bildung jemand hat, sondern darin, wer von vornherein genug materielle Mittel besitzt, um sich bessere Bildung überhaupt leisten zu können. Daher kann man die Ungleichheit in der Gesellschaft nicht einfach dadurch lösen, dass man mehr Schulen oder Universitäten baut.

Um die gesellschaftliche Ungleichheit zu verringern, ist das Bildungssystem umzustrukturieren. Gleichzeitig müssen auch Arbeit, Einkommen und Vermögen fairer verteilt werden. Bildung allein kann eine faire Steuer- und Sozialpolitik nicht im Geringsten ersetzen.

Um Kindern aus ärmeren Familien gleiche Bildungschancen zu geben, müssen öffentliche Schulen mit den besten Materialien und Lehrkräften ausgestattet werden.

 

3 Forderungen gegen Kinderarmut

Mehr individuelle Förderung

Kinder, die in vielen Bereichen ihres Lebens benachteiligt sind, benötigen zielgerichtete Unterstützung. Dies umfasst sowohl akademische Förderprogramme als auch psychologische und sozialpädagogische Angebote, die allein diesen Kindern zugute kommen, um ihre Chancen auf eine positive Entwicklung zu erhöhen.

Ausbau der Infrastruktur

Die öffentlichen Einrichtungen für soziale Unterstützung, Bildung und Betreuung müssen erweitert und verbessert werden. Dazu gehört der Zugang zu qualitativer Bildung und professioneller Betreuung – beides wesentliche Grundlagen für eine gerechte Teilhabe an der Gesellschaft.

Existenzielle Sicherheit

Die finanzielle Unterstützung für Familien muss um ein Vielfaches verstärkt werden und sich an realen Lebensbedingungen orientieren. Eine angemessene Kindergrundsicherung gibt Familien die nötige Stabilität und sichert ihre materielle Grundversorgung, so wie es auch im Grundgesetz steht: „Das Grundgesetz gewährt allen Menschen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben – unabhängig von ihrem Einkommen, ihrer Herkunft und ihrem Aufenthaltsstatus.“ (Art. 1 Abs. 1)

 

Fazit: Bildung schützt nicht vor Armut

Anstatt Bildung als essenziellen Bestandteil zu nutzen, um Kinderarmut zu bekämpfen, missbrauchen manche Politiker sie leider nur als Propaganda. Im Streit um die Kindergrundsicherung in der Ampel-Koalition behauptet der aktuelle Bundesfinanzminister zum Beispiel, auf Bildungsinvestitionen zu setzen statt direkter finanzieller Unterstützung für bedürftige Familien. Trotzdem kürzt er vorzugsweise im Bildungs- und Sozialbereich …

Wer behauptet, Kinderarmut durch bessere Bildung lösen zu wollen, aber nicht das nötige Geld dafür bereitstellt, lenkt eigentlich nur von der Notwendigkeit einer gerechteren Verteilung von Ressourcen und Geldern ab.


Quellen:
1) Christoph Butterwegge: Bildung – Keine Wunderwaffe gegen Armut. In: Kontext: Wochenzeitung, Ausgabe 685, Politik
2) Simone Molitor: Alltag in prekären Verhältnissen – Was Armut mit Kindern macht. In: Luxemburger Wort, Ausgabe vom 25.05.2024)
3) Deutscher Bundestag: Dokumentation WD 9 - 3000 - 056/23 „Zum Zusammenhang von Kinderarmut und Bildungsabbrüchen“

Tamara Niebler

Tamara ist studierte Philosophin (Mag. phil.) & freie Journalistin in München. Sie unterstützt unsere Redaktion mit jeder Menge Fachwissen und kritischen Denkanstößen. Tamaras Motto: „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka)

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