Arme Menschen sind deutsch, arbeitstätig & gut ausgebildet

Arme Menschen in Deutschland

In der öffentlichen Wahrnehmung wird das Bild von Armut oft mit Arbeitslosigkeit, Migrationshintergrund und geringer Bildung in Verbindung gebracht.

Doch die Realität zeichnet ein komplexeres Bild: Eine Großzahl der Personen, die in Deutschland offiziell von Armut betroffen sind, bleiben trotz Job und angemessener Qualifikationen im Teufelskreis der Armut gefangen. 

Arbeitslos ist nur eine Minderheit

Laut Statistik 2022 waren ca. 20,9 % der Bevölkerung in Deutschland arm (1). Im Jahr 2023 sind es laut Paritätischen (2) schon 14,1 Millionen Menschen, die hierzulande in relativer Armut leben müssen.

Vgl. Was ist Armut? (Philosophie) – Und warum ist sie ein Problem?

  • Immer noch sind Haushalte mit 3 oder mehr Kindern (32,2 %) sowie Alleinerziehende (42,3 %) am stärksten von Armut betroffen. 

  • Das Gleiche gilt für Personen mit Migrationshintergrund (28,6 %) und ohne deutsche Staatsangehörigkeit (35,9 %). 

  • Die Armutsquote bei Kindern und Jugendlichen hat einen neuen Höchststand von 21,3 % erreicht. 

  • Gleiches gilt für ältere Menschen (17,6 %) und Rentner (18,2 %), insbesondere Frauen – Altersarmut ist weiblich.

Vgl. auch Kinderarmut erkennen – subtile Anzeichen

 

Doch was bedeuten diese Zahlen eigentlich in der Realität?

Haben wirklich die meisten armen Menschen keinen Job?

Und sind tatsächlich so viele Migranten darunter?


 

Krankheiten, Sorgen und mangelnde Selbstbestimmung

Einkommensarmut tritt immer zusammen mit einer schlechteren Gesundheit, Sorgen und Nöten auf. Das führt bei vielen zum Gefühl, keinerlei Möglichkeit der Kontrolle über das eigene Leben zu haben (vgl. gefühlte Armut).

Armen Menschen in Deutschland geht es in allen Lebensbereichen auf subjektiver und objektiver Ebene sehr viel schlechter als denjenigen, die nicht betroffen sind.

Vgl. Was Armut mit Kindern macht – Und wie sehr sie prägt

 

Politik konzentriert sich auf eine marginale Gruppe

Zweifellos ist es notwendig, die Verbindung zwischen Arbeitslosigkeit und Armut durch angemessene Grundsicherungsleistungen zu lösen. Jedoch würde eine Konzentration der Maßnahmen zur Armutsbekämpfung, die sich ausschließlich auf erwerbslose Menschen richtet, an der Mehrheit der armen Menschen in Deutschland einfach vorbeigehen.

Zum Beispiel würde dadurch die Altersarmut völlig vernachlässigt. Immerhin lebt jeder 4. Betroffene von einer kleinen Rente oder Pension

Daher ist es unerlässlich, die Analyse der Armutsquoten bestimmter Bevölkerungsgruppen um zusätzliche Untersuchung zu erweitern. 

 

Wer sind “die Armen”?

Welcher Prozentsatz der Betroffenen lebt allein, hat Kinder ohne Partner oder ist beschäftigungslos? Obwohl 63 % der Arbeitslosen als arm gelten, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass sie die dominante Bevölkerungsgruppe unter den Betroffenen sind.

Bereits bei oberflächlicher Betrachtung wird deutlich, dass die Prozentsätze der Armut für spezifische Bevölkerungsgruppen keine direkte Schlussfolgerung über die sozialen und demografischen Merkmale liefern können.

 

Das Klischee vom typischen Armen ist falsch

Dennoch herrschen in der öffentlichen Wahrnehmung bestimmte Stereotype vom „typischen“ Armen, das sind: Alleinerziehende, Arbeitslose, Personen mit niedrigem Bildungsstand oder Migranten.

Wenn man rein merkmalsbezogene Armutsberechnungen betrachtet, ohne sie in einen größeren Zusammenhang zu setzen, liegt dieser Fehlschluss nahe. Und die einseitige mediale Darstellung trägt ihr Übriges dazu bei, das Klischee vom bildungsfernen, arbeitslosen Armen zu verfestigen.

» Mehr erfahren: Kinderarmut: Bildung bietet keinen Schutz

 

Arm sind hierzulande Deutsche, Arbeitende und Qualifizierte

Richtig ist, den Prozentsatz der einzelnen Gruppen (wie Alleinerziehende oder Arbeitslose) in Bezug auf die Gesamtbevölkerung zu beachten. Hier zeigt sich nämlich: Obwohl Arbeitslose in der Regel finanziell benachteiligt sind, impliziert das nicht zwangsläufig, dass alle Armen arbeitslos sein müssen.

Wer sind also diese 14,1 Millionen Menschen in unserer Gesellschaft, die als arm gelten? Wen begegnen wir höchstwahrscheinlich, wenn wir uns im Milieu Betroffener bewegen?

Auf jeden Fall nicht die genannten Gruppen  – denn diese bilden nicht den Großteil der Betroffenen. Stattdessen handelt es sich bei zwei Drittel um:

  • in Deutschland geborene Menschen 

  • Personen mit mittlerer oder höherer Bildung

  • Erwerbstätige oder Menschen in Ausbildung 

  • Personen im Ruhestand (also Senioren)

Arbeitslosigkeit betrifft tatsächlich nur eine geringe Anzahl dieser Bevölkerungsgruppe. Die große Mehrheit ist entweder erwerbstätig oder im Ruhestand. Die meisten haben mindestens einen mittleren Bildungsstand, und viele besitzen sogar höhere Qualifikationen. (vgl. Sozialer Aufstieg durch Bildung & die Opfer)

Auch ist belegt, dass Armut in all ihren Facetten nichts mit Migration zu tun hat.

 

Fazit: Arme Menschen

Deutschland ist ein wirtschaftlich starkes und sozial fortschrittliches Land. Trotzdem werden Altersarmut, Familienarmut und Kinderarmut gerne übersehen – sogar von den Betroffenen selbst. 

Dies lässt sich teilweise durch den hohen Lebensstandard und die umfassenden Sozialsysteme erklären, die extreme Formen der Armut hierzulande gut kaschieren. Die neue Armut (also die relative Armut) ist weniger offensichtlich und erfordert ein genaues Hinsehen, um sie zu erkennen. (Klassismus in Deutschland – Der Kampf gegen Arme)

Wirkliche Veränderung kann nur erreicht werden, wenn wir die relativen Unterschiede in Einkommen, Bildungszugängen und Lebenschancen, die trotz des Wohlstands existieren, nicht ignorieren. 

Um Armut in Deutschland effektiv zu bekämpfen, müssen wir also zunächst unsere Sichtweise ändern und bereit sein, das Problem in seiner gesamten Komplexität anzuerkennen.

Die Bekämpfung von Armut liegt in unser aller Verantwortung.

Allerdings müssen wir auch bereit sein, sie überhaupt sehen zu wollen. 


Quellen:

(1) statista.de: Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffenen Bevölkerung in Deutschland nach Alter und Geschlecht im Jahr 2022
(2) Der Paritätische: Ausgabe 02 | 2023: Armut? Abschaffen!
(3) Der Paritätische: Wer die Armen sind. Der Paritätische Armutsbericht 2018
(4) Bundesministerium für politische Bildung: Armut

Tamara Niebler

Tamara ist studierte Philosophin (Mag. phil.) & freie Journalistin in München. Sie unterstützt unsere Redaktion mit jeder Menge Fachwissen und kritischen Denkanstößen. Tamaras Motto: „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka)

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