Bedürfnisorientierte Erziehung – Bedeutung & Umsetzung
Der Begriff „Bedürfnisorientierte“ Erziehung ist sehr umstritten, weil er entweder falsch aufgefasst oder vermittelt wird. Daher ist es so wichtig, diese Art von Erziehung in das richtige Licht zu rücken und den Begriff klar zu definieren.
Ein bedürfnisorientierter Erziehungsstil ist kein Wunschkonzert
Bedürfnisorientierte Erziehung – das ist doch das, wo das Kind machen darf, was es will, oder? Naja, nicht so ganz. Der Begriff wurde von dem amerikanischen Kinderarzt William Sears und seiner Frau Martha in den 1980er-Jahren geprägt.
Das Konzept der bedürfnisorientierten Erziehung soll widerspiegeln, dass es für ein Kind und auch für die positive Entwicklung des Kindes essenziell ist, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und ihnen nachzukommen. Jedoch wird der Sinn hinter diesem Erziehungsstil häufig missverstanden oder falsch praktiziert. Und das ist nicht gut, denn eine missverstandene bedürfnisorientierte Pädagogik kann sich negativ auf die Kindesentwicklung auswirken.
Daher ist es sehr wichtig, sich zuvor damit zu beschäftigen, was „bedürfnisorientiert“ bedeutet und wie die Umsetzung im Alltag aussieht.
Vgl. auch: Was ist Erziehung? – Bedeutung, Ziele, Aufgaben
Was bedeutet bedürfnisorientierte Erziehung?
Bedürfnisorientierte Erziehung ist ein Ansatz, bei dem das Wohlbefinden und die individuellen Bedürfnisse des Kindes im Mittelpunkt stehen. Anstatt ein "Einheitsmodell" der Erziehung zu verfolgen, in dem alle Kinder gleich behandelt werden, erkennt die bedürfnisorientierte Erziehung an, dass jedes Kind einzigartig ist und spezielle Bedürfnisse hat, die erkannt und erfüllt werden sollten, um eine gesunde Entwicklung zu fördern.
Hierbei wird besonderer Wert auf emotionale Bedürfnisse wie Sicherheit, Liebe, Zugehörigkeit und das Gefühl, verstanden zu werden, gelegt. Zum Beispiel ein weinendes Baby zu trösten, anstatt es schreien zu lassen, ein Kind beim Lernen zu unterstützen oder darauf zu achten, die Unabhängigkeit eines Jugendlichen zu respektieren. Vgl. auch handlungsorientiertes Lernen
Das Ziel ist es:
Kinder in ihrer Entwicklung des Selbstwertgefühls zu unterstützen » Selbstwertgefühl von Kindern stärken
die sozialen Kompetenzen zu fördern, damit das Kind in der Lage ist, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen
Die bedürfnisorientierte Erziehung soll eine Grundlage schaffen, auf der Kinder zu selbstbewussten und emotional ausgeglichenen Erwachsenen heranwachsen
Unterschied:
Bedürfnisorientiert vs. Bindungsorientiert
Häufig liest man in diesem Zusammenhang auch den englischen Begriff „Attachment Parenting“. Jedoch gehört dieses Wort vielmehr in die „Bindungsorientierte Erziehung“. Diese Form der Erziehung bezieht sich ausschließlich auf das Säuglingsalter. Die Merkmale dieser Erziehungsform richten sich nach 7 Säulen und beziehen sich zum Beispiel darauf:
dass direkt nach der Geburt, körperlicher Kontakt zwischen den Eltern und dem Säugling hergestellt werden soll,
dass das Stillen besser ist, als die Nahrung aus der Flasche und unter anderem,
dass auf das kindliche Schreien angemessen reagiert werden und es richtig gedeutet werden soll.
5 Bausteine der bedürfnisorientierten Erziehung
Die Gefühle des Kindes sind wichtig. Gib ihm das Gefühl, dass seine Gefühle auch richtig sind.
Versuche zu verstehen, was das Kind dir durch sein Verhalten sagen möchte. Handle je nach Situation, Alter und Entwicklungsstand des Kindes.
Bewahre dir deine Grenzen und Bedürfnisse. Stelle sie nicht ganz hinten an. Denn sie sind genauso wichtig wie die des Kindes (Vgl. Grenzen setzen bei Kindern – Kind hört nicht und provoziert).
Schließe Kompromisse.
Vermeide Sätze, wie „Hör auf zu schreien!“, oder „Lass das sein!“ Die spiegeln nicht wider, dass du das Bedürfnis des Kindes verstehst.
Bedürfnisorientierte Erziehung richtig verstehen
Innerhalb der bedürfnisorientierten Erziehung geht es nicht darum, dass die Bedürfnisse des Kindes gestillt werden, sondern ebenso, dass das Kind lernt, seine Bedürfnisse für eine gewisse Zeit zurückzustellen und sich in Geduld zu üben.
Aber welches Bedürfnis, lässt sich für einen Moment zurückstellen und welches nicht? Nicht zurückstellen lassen sich die Grundbedürfnisse des Kindes:
Hunger und Durst
Toilettengang
Schlafen
Liebe
Ruhe
Autonomie (Selbstständigkeit) (Vgl. auch Autonomiephase / Trotzphase verstehen)
Möchte das Kind Schokolade oder ein Spielzeug im Supermarkt, mach es von der Situation abhängig, ob du das Bedürfnis stillst oder nicht. Schau bei dem Wunsch nach Schokolade zum Beispiel, ob es zuvor bereits eine Mahlzeit hatte und dies als kleiner Nachtisch dienen soll. Oder ob das Kind sich zuvor sehr viel bewegt hat.
So geht bedürfnisorientierte Pädagogik nicht
Wenn bedürfnisorientierte Erziehung missverstanden wird, passiert nämlich das:
Das Kind lernt nicht sich anzupassen und Geduld zu haben, bis seine Bedürfnisse gestillt werden können.
Es lebt nach dem Motto „Die Erde dreht sich um mich, nicht um die Sonne“.
Das Kind wird die Bedürfnisse anderer nicht wahrnehmen können, geschweige denn, ihnen genauso viel Wert schenken können, wie seinen eigenen. Ebenso wird es sich Situationen oder Menschen gegenüber gleichgültig und grenzenlos verhalten.
Die Frustrationstoleranz des Kindes bleibt gering, da es nie lernen musste, mit Wut und Frust umzugehen. Vgl. Wutanfälle bei Kindern
Beispiel für bedürfnisorientierte Erziehung
Wenn bedürfnisorientierte Erziehung richtig verstanden wird, passiert vielmehr das:
Das Kind baut ein unerschütterliches Vertrauen zu dir auf, da du ihm Sicherheit gibst, indem du es ernst nimmst.
Indem du vorlebst, dass die Bedürfnisse deines Kindes ernst genommen werden und du sie nicht ignorierst, stärkst du das Selbstvertrauen deines Kindes. Auch die Autonomie (Selbstständigkeit) gelingt besser. Vgl. die Stärken eines Kindes
Durch die Kommunikation von Gefühlen innerhalb der Familie (und zwar ganz offen und ehrlich) lernt ein Kind, dass es in Ordnung ist, Gefühle zu zeigen und es wird sich so auch seinen Mitmenschen gegenüber verhalten.
Da dein Kind jeden Tag vorgelebt bekommt, dass es respektiert wird, lernt es Empathie gegenüber seinen Menschen zu zeigen.
Durch eine offene Kommunikation, Gefühle zeigen (die dann auch akzeptiert werden) und gegenseitigem Verständnis, sinkt der Stresspegel. Die Familie gilt für das Kind als „sicherer Hafen“.
Vgl. auch Resiliente Kinder – Was Kinder stark macht und Resilienzstärkung für Eltern
Der bedürfnisorientierte Blick
Aufmerksamkeit
Hast du das Gefühl, das Kind macht nur Unsinn und in die keimt ein genervtes Gefühl auf? Dann möchte das Kind nur deine Aufmerksamkeit.
Nähe / Geborgenheit
Es ist ein Tag zum „Haare raufen“. Das Kind klammert an dir und quengelt. Nichts, kannst du ihm recht machen? Doch. Jetzt braucht es ganz besonders deine Nähe.
Ruhe
Das Kind packt ein Spiel aus und 2 Sekunden später, will es das Spiel doch nicht spielen. Packt es ein und holt ein anderes Spiel aus dem Schrank. Und das Drama wiederholt sich. Du stehst kurz vor der Verzweiflung, doch stopp! Nicht verzweifeln. Zeige dem Kind einen Rückzugsort. Wahrscheinlich braucht es gerade nur Ruhe.
Trost
Dem Kind fällt die Gabel runter. Es weint. Die Farbe des Bechers ist nicht seine Lieblingsfarbe. Es weint. Und vom Mittagsschlaf keine Spur! Heute benötigt das Kind ganz besonders viel Trost. Nicht jeder Tag ist immer voller Sonnenschein.
Autonomie
Es will keine Hilfe beim Schuhe anziehen, beim Toilettengang etc., aber dann braucht es ewig und ihr wollt doch auf das Außengelände … alles gut. Dem Kind wird das nicht fehlen, denn da liegt gerade nicht das Bedürfnis. Das Bedürfnis liegt darin, zu lernen, sich selbstständig die Schuhe anzuziehen.
Liebe und Zuwendung
Das Kind macht ständig heute das Gegenteil von dem, was es soll und hält sich nicht an die Regeln? Es möchte ständig süße Sachen essen? Dann benötigt es zurzeit viel von deiner Liebe und Zuwendung. Vgl. auch Familienregeln im Alltag + Beispiele
Mehr Zeit
Das Kind lässt sich wahnsinnig viel Zeit beim Händewaschen, trödelt und reagiert aggressiv, wenn du sagst, dass es nicht so trödeln soll, weil die anderen Kinder sich auch noch die Hände waschen möchten und das Mittagessen bereits auf dem Tisch steht?
Dann ist dem Kind das Mittagessen und auch die Tätigkeit des Händewaschens vollkommen egal. Das Einzige, was es gerade möchte und braucht, ist Zeit. Das Kind entschleunigt selbst seinen Alltag. Eine großartige Leistung!
Vgl. auch Brauchen Kinder ein warmes Mittagessen? Müssen Kinder täglich warm essen?
Fazit: Bedürfnisorientierte Erziehung
Bedürfnisorientierte Erziehung meint nicht, dass das Kind machen kann, was es will und das Zepter schwingt. Es bedeutet nicht, dass alle Familienmitglieder sich den Bedürfnissen des Kindes zu beugen haben und sich nur noch 24/7 alles um das Kind und seine Bedürfnisse dreht.
Denn auch mal ein Bedürfnis für kurze Zeit zurückzustellen und sich in Geduld zu üben, spiegelt das soziale Miteinander wider, welches das Kind auch kennenlernen soll. Es kann auf diese Weise lernen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden.
Dazu gehören auch gewisse Regeln. Das Kind darf jedoch auch verstehen lernen, dass ein Bedürfnis für eine bestimmte Zeit zurückzustellen nicht bedeuten soll, sich komplett aufzugeben.
Evtl. auch interessant für dich: Eingewöhnung Kita oder Philosophieren mit Kindern
Quellen:
1) Psychotherapie, Psychologie und Coaching; „Bedürfnisorientierte Erziehung – Fluch oder Segen?
2) Leonie Illerhues: Bedürfnisorientierte Erziehung – Was steckt hinter dem Hype?
3) das KITA-Handbuch