Olivias Erfahrung mit Kinderarmut – Ein Fallbeispiel

Olivia hat in ihrer Kindheit persönlich erlebt, was Armut bedeutet. Hier erzählt sie eindrücklich von ihren eigenen Erfahrungen mit Kinderarmut in Deutschland. Ihre Geschichte ist ein bewegendes Beispiel dafür, dass Kinderarmut in Deutschland keine abstrakte Größe ist, sondern das Leben und die Zukunft von Kindern unmittelbar beeinflusst.

Olivias Erfahrung mit Kinderarmut

„Scham war immer und überall dabei.“

„Ich bin in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen – mitten in Deutschland – wie leider auch viele andere Kinder in meinem Umfeld. Obwohl wir alle verschiedene Hintergründe hatten, war eines immer gleich: das Gefühl der Unsicherheit.

Gleichzeitig träumten wir, wovon alle Kinder träumen: Als Erwachsene ein gutes Leben zu haben.

Manche schwärmten von Luxus, klar, doch viele hatten einfach nur die Vorstellung, genügend Einkommen zu verdienen, um ohne finanzielle Sorgen über die Runden zu kommen. Einfach mal nicht nur Sonderangebote einkaufen, nicht jeden Cent umdrehen müssen, schöne Kleidung shoppen.

Schon früh sah ich das Abitur als mein persönliches Ziel an, um es eines Tages besser zu haben als meine Eltern. Einige Freunde begleiteten mich auf dem Weg, doch am Ende war ich die Einzige, die es überhaupt bis zum Abi schaffte. Dabei war ich nicht klüger oder fleißiger als die, sondern hatte einfach weniger Probleme zu Hause.

Vgl. auch: Kinderarmut erkennen sowie Kinderarmut & Scham

Zum Beispiel Fatma, mit ihr war ich damals gut befreundet. Sie hatte 5 kleinere Geschwister, ihre Mutter war alleinerziehend und auf Sozialhilfe angewiesen. Als die dann krank wurde, musste Fatma die Schule abbrechen und arbeiten gehen, um die Familie zu versorgen.“

 

Über 3 Mio. Kinder wachsen hierzulande in Armut auf

In einem Land, das zu den größten Wirtschaftsmächten der Welt gehört, mag das Bild von Kindern, die in Armut aufwachsen, irritieren. Doch Tatsache: Der aktuelle Armutsbericht zeigt, dass in Deutschland mehr als 3 Millionen Kinder und Jugendliche von Armut betroffen sind. Das sind nicht bloß Zahlen auf Papier, sondern junge Menschen mit Träumen, Hoffnungen und dem Wunsch nach Veränderung.

Diese Kinder erleben häufig eine erschreckende Diskrepanz zwischen ihrem Alltag und dem, was ihnen durch Medien und in ihrem Umfeld an Werten und Idealen vorgelebt wird.

Die beschriebene Unsicherheit und das Gefühl des „Anders-seins“ sind nur zwei der psychologischen Folgen, die eine solche Kindheit mit sich bringt. Mehr erfahren » Folgen von Kinderarmut und Folgen der Armut und Kindheit prägt das Leben

Hinzu kommt, dass Bildung in Deutschland immer noch eng mit sozialer Herkunft verknüpft ist. Erhebungen legen offen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien um ein Vielfaches seltener höhere Bildungsabschlüsse erreichen, obwohl angesichts der Bildungsexpansion das Gegenteil erwartet wurde.

» Mehr erfahren: Kinderarmut: Bildung bietet keinen Schutz

 

„Warum hat sich nichts verändert?!“

„Als ich das Abitur schaffte und an die Uni ging, war ich völlig alleine. Dort fand ich keinen Anschluss. Ich bin die Erste in unserer Familie mit Studium, das nennt sich heute Erstakademiker, Studierende der ersten Generation oder First Generation. Trotzdem habe ich mich im Studium immer irgendwie geschämt. Für die anderen Studenten war vieles so sicher und selbstverständlich; mir haben all die neuen Eindrücke lange Zeit Angst gemacht.

Dass ich heute dort bin, wo ich stehe, ist fast unwirklich, wenn ich mir die vielen Berichte über Kinderarmut ansehe. Seit meiner Kindheit ist es für viele Kinder und Jugendliche in Deutschland sogar noch schlimmer geworden, als es zu meiner Zeit war.“

 

Soziale Mobilität in Deutschland rückläufig

Olivias subjektiver Eindruck täuscht nicht: Kinderarmut hat in Deutschland neue Dimensionen erreicht. Auch sind Kinder und Jugendliche hierzulande überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen.

 

„Armut ist kein Partythema“

„In meiner Nachbarschaft lebten nur Menschen, die auf staatliche Hilfen angewiesen waren. Die meisten Eltern in meinem Freundeskreis haben gearbeitet, aber die Arbeit von denen war schlecht bezahlt und das Geld reichte nie. Richtig angesehen hat man das aber kaum jemanden. 

Außerdem schämt sich doch jeder, arm zu sein. Damit geht man nicht hausieren. Viele sind sehr kreativ darin, Ausreden zu finden, damit die anderen nichts merken. Oder auch, um sich selbst etwas vorzumachen. Ich hatte einen Jungen in meiner Klasse, dessen Eltern nie etwas von Klassenfahrten mitbekommen haben, weil er sie nicht damit belasten wollte und für die Schule Geschichten erfand, um abzusagen.

Auch ich erinnere mich gut an das Gefühl, sich ausgeschlossen oder nicht gut genug zu fühlen. Vor allem, als ich das Abitur machte. Viele meiner Mitschüler:innen besuchten regelmäßig Konzerte oder gingen zusammen ins Restaurant. Ich log, weil ich mich schämte, kein Geld für das Kino oder andere Unternehmungen zu haben. 

Anders-sein, dieses Gefühl begleitete mich auch durch das Studium und selbst heute habe ich noch damit zu kämpfen.“

 

Kinderarmut prägt ein Leben lang

Kinderarmut hinterlässt Spuren im Körper und in der Psyche. Der Mangel an finanziellen Ressourcen begrenzt einerseits unmittelbare Bedürfnisse, wie Ernährung, Kleidung oder gesunde Wohnverhältnisse. Andererseits beschränkt Armut den Zugang zu Bildung, Gemeinschaft und Freizeitaktivitäten, die für die Entwicklung eines Kindes so unerlässlich sind.

Vgl. Was Armut mit Kindern macht

Studien belegen, dass Kinder aus benachteiligten Verhältnissen häufiger mit geringerem Selbstwertgefühl und höheren Stressleveln kämpfen. Permanenter Stress ist bei Kindern hochgefährlich – viel gefährlicher als bei Erwachsenen, denn er beeinflusst die aktuelle Leistungsfähigkeit sowie die weitere Entwicklung schwerwiegend. Armut vermindert die Stressresilienz sogar, wenn aus den betroffenen Kindern längst Erwachsene geworden sind (2).

Vgl. auch: Emotionaler Stress bei Kindern und Selbstwertgefühl von Kindern stärken

 

„Wir waren einfach allen egal, das hat sehr frustriert und wütend gemacht.“

„Mein Glück war, dass ich gut lernen und mich in der Schule anpassen konnte. Wichtig war auf jeden Fall eine meiner Lehrerinnen, die dafür kämpfe, dass ich aufs Gymnasium gehen konnte.

Das gelang vielen anderen aus meiner Gegend nicht. Die waren meist laut und frech im Unterricht. Einige brachten ständig Ärger nach Hause. Heute weiß ich, warum sie das taten: um ihre Unsicherheit zu überspielen, oder weil sie einfach total frustriert waren. Ein Junge aus meiner Klasse sagte damals zu mir: „Ich bin doch sowieso zu dumm für das alles. Warum sollte ich lernen?“

Dieser Satz ist mir im Kopf geblieben, weil er das Lebensgefühl von damals trifft. Auch ich musste später auf dem Weg zum Abitur immer wieder mit diesem Glaubenssatz ringen.

Ich bin mir sicher, dass viele Politiker und Menschen in Entscheidungspositionen sich nicht vorstellen können, wie es ist, in Deutschland arm zu sein. Wie lässt sich sonst erklären, dass nichts passiert?“

 

Die Kindergrundsicherung muss kommen

Deutschland ist ein wohlhabendes Land und besitzt die Mittel, umfassend gegen Kinderarmut und soziale Ungleichheit vorzugehen. Doch dafür braucht es strukturelle Veränderungen, statt zögerlicher Symptom-Bekämpfung.

Die Einführung der Kindergrundsicherung könnte effektiv dazu beitragen, Kinderarmut in Deutschland zu reduzieren – vorausgesetzt, sie berücksichtigt den tatsächlichen Bedarf von Familien mit Kindern und Jugendlichen.

Bei allen Debatten um Kinderschutz, Kinderrechte und Kindergeld geht es um weit mehr als nur Gelder für Eltern. Vielmehr geht es um ein gesellschaftliches Zeichen, das beweist, dass Kinder in Deutschland etwas wert sind. Jedes Kind hat es von Natur aus verdient, selbstbestimmt aufzuwachsen.

Vgl. auch: 10 Kinderrechte – Und warum Kinderrechte wichtig sind

 

Fazit: Olivias Erfahrung mit Kinderarmut

Olivias Erfahrungen spiegeln die Schwierigkeiten wider, mit denen sich viele benachteiligte Kinder konfrontiert sehen. Ihr Bericht zeigt, dass Kinder aus armen Verhältnissen nicht nur materielle Unterstützung brauchen, sondern vor allem Anerkennung, Chancengleichheit und die Möglichkeit, ihre individuellen Fähigkeiten und Talente entfalten zu können.

Nur so kann eine Gesellschaft entstehen, in der jedes Kind unabhängig von seiner Herkunft faire Chancen erhält.

Menschen, die in Armut leben, führen oft ein Leben, das auf den ersten Blick normal erscheint. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich ein täglicher Kampf um die wichtigsten Dinge des Lebens: existenzielle Sicherheit, soziale Anerkennung und freie Selbstbestimmung.


Quellen:

1) Tamara Niebler: Was Armut mit Kindern macht
2) Christian Wolf: Macht Armut dumm? In: Gehirn & Geist
3) Chiva Tafazzoli: Kindergrundsicherung – Ein Weg aus der familiären Armut

Tamara Niebler

Tamara ist studierte Philosophin (Mag. phil.) & freie Journalistin in München. Sie unterstützt unsere Redaktion mit jeder Menge Fachwissen und kritischen Denkanstößen. Tamaras Motto: „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka)

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