Frühkindliche Entwicklung
Die frühe Kindheit
Zu keiner anderen Zeit unseres Lebens entwickeln wir uns so schnell wie in der frühen Kindheit. In diesem Zeitraum wird unser späterer Charakter zu einem großen Teil geprägt.
Wir verändern uns ein Leben lang. Unsere kognitiven Fähigkeiten entwickeln sich fortwährend. Bis ins hohe Alter ist unser Gehirn lernfähig und trainierbar. Immer wieder wechseln unsere sozialen Beziehungen. Aber in keiner Phase unseres Lebens passiert so viel, wie in der frühen Kindheit. Wie unsere frühkindliche Entwicklung verläuft, beeinflusst das ganze Leben.
Vgl. auch 6 Entwicklungsstufen (Piaget, Freud etc.) von Kindern – Die 5 Entwicklungsbereiche von Kindern – Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern fördern & stärken
Frühkindliche Entwicklung und das Wunderwerk Gehirn
Die Entwicklung beginnt schon lang vor der Geburt
Die menschliche Gehirnentwicklung beginnt in der 3. Schwangerschaftswoche. Bis zum Ende der 8. Woche ist das Gehirn beinahe vollständig angelegt 1).
Schon ab der Hälfte der Schwangerschaft kann der Fötus Laute und Geräusche wahrnehmen und verarbeiten.
Lang vor der Geburt können Stress oder Krankheit der Mutter das ungeborene Kind beeinflussen. Auch zu wenig Platz im Bauch oder eine Fehllage kann eine Rolle spielen.
Doch mit der Geburt ist die Entwicklung des Gehirns längst nicht abgeschlossen. Das Kind muss in seiner Entwicklung nachreifen 2).
Das Gehirn sichert unser Überleben
Unser Gehirn ist ein wahres Wunderwerk. Es besteht aus ca. 100 Milliarden Nervenzellen. Über 100 Millionen Verbindungen (Synapsen) kommunizieren mit anderen Nervenzellen.
Die Nervenzellen sind für verschiedenste Aufgaben zuständig. Mithilfe elektrischer Impulse leiten sie Signale aus dem Körper ins Gehirn – und wieder zurück.
Unser Gehirn vollbringt so täglich wahre Höchstleistungen.
Es steuert beispielsweise wichtige überlebensnotwendige Funktionen. Dazu gehört unser Schlafverhalten, unsere Atmung, der Kreislauf.
Aber unser Gehirn leistet noch viel mehr. Dank ihm können wir Sinneseindrücke verarbeiten. Wir können riechen, sehen, hören, fühlen, Schmerz empfinden.
In den ersten drei Lebensjahren entwickelt sich das Gehirn rasant
Ein Neugeborenes hat genauso viele Nervenzellen wie Erwachsene. Sie sind aber klein und wenig vernetzt 3).
Bei Kindern wie Erwachsenen kann eine Gehirnzelle bis zu 10.000 Synapsen ausbilden.
In den ersten Lebensjahren nimmt die Zahl der Synapsen rasant zu. Mit zwei Jahren hat das Kind so viele Nervenverbindungen wie Erwachsene. Mit drei Jahren sind es doppelt so viele.
Bis zum Jugendalter wird gut die Hälfte der Synapsen wieder abgebaut. Darunter sind Synapsen, die sich im Laufe der Kindheit als nicht relevant „erwiesen“ haben.
Dafür werden die benötigten Bahnen zwischen Neuronen intensiviert.
Mit Eintritt ins Erwachsenenalter ist die typische Anzahl von 100 Billionen erreicht.
Kinder wollen lernen
Das Gehirn eines 3-jährigen Kindes ist viel aktiver als das eines Erwachsenen. Damit verbunden ist eine im Gegensatz zu Erwachsenen sehr hohe Lern- und Anpassungsfähigkeit.
Ein neugeborenes Baby kann sich an Kulturen und Lebenssituationen gewöhnen. Es kann unterschiedliche Sprachen, Lebensstile und Verhaltensweisen erlernen.
Gleichzeitig ist es einer großen Anzahl unterschiedlicher Reize ausgesetzt
Frühkindliche Entwicklung in Phasen
Gerade in den ersten drei Lebensjahren ist die Entwicklung rasant. Sie ist aber sehr störanfällig. Es spielt eine große Rolle, ob die Mama richtig mit dem Kind umgeht.
Es wirkt sich beispielsweise auf das Kind aus, wenn sie oft überreizt ist. Oder wenn sie das Kind nicht stillt.
In verschiedenen Phasen der frühkindlichen Entwicklung hat das Kind unterschiedliche Bedürfnisse.
Der Ansatz von Sigmund Freud
Der Wiener Arzt Sigmund Freud gilt als der Begründer der Psychoanalyse. Viele seiner Entdeckungen haben heute noch Bestand. Vieles wurde weiterentwickelt und verändert.
Nichtsdestotrotz orientiert sich die psychodynamische Psychotherapie weitgehend an ihm. Er hat als einer der Ersten die frühkindliche Entwicklung in Phasen eingeteilt.
Die drei frühkindlichen Entwicklungsphasen nach Freud
Orale Phase (1. Lebensjahr): Das Baby erkundet alles mit dem Mund. In dieser Phase wird das Urvertrauen gebildet.
Das Kind hat noch kein Bewusstsein von sich selbst. Es ist von der Pflege der Bezugspersonen abhängig & kann sich nicht von der Umwelt abgrenzen.
Es sieht sich als Einheit mit seiner Bezugsperson (meist der Mutter).
Das Kind will seine Triebbedürfnisse erfüllen und so das Überleben sichern. In diesem Zeitraum entwickelt sich die erste Liebesfähigkeit.
Anale Phase (2.-3. Lebensjahr): Das Kind lernt, seine Körperfunktionen zu kontrollieren. Dadurch erlangt es zum ersten Mal Autonomie. (Vgl. Autonomiephase verstehen). In dieser Zeit lernt es auch, dass der eigene Wille nicht immer durchgesetzt werden kann.
Ödipale Phase (ab 3., aber hauptsächlich im 4.-5. Lebensjahr). Das Kind beginnt, Geschlechtsunterschiede wahrzunehmen.
In dieser Phase besteht eine starke Zuneigung zum gegengeschlechtlichen Elternteil. Zum gleichgeschlechtlichen Elternteil besteht in diesem Zeitraum ein Konflikt.
Im vierten Lebensjahr hat ein Mensch gemäß diesen Phasen die Grundstruktur der Persönlichkeit festgelegt.
Wenn Kinder diese ersten Entwicklungsstufen abschließen können, wird ihre Resilienz und psychische Gesundheit gestärkt.
In der Pubertät wird die seelische Entwicklung schließlich abgeschlossen.
Frühkindliche Entwicklung – die Entwicklung von Fähigkeiten
Frühkindliche Entwicklung beginnt mit der Geburt. Von Anfang an sind Neugeborene bindungsbereit und wollen lernen. Die motorische Entwicklung beginnt mit Reflexen. Während der ersten Lebensjahre entwickelt das Kind dann verschiedenste Fähigkeiten. Vgl. auch Bindungsorientierte Erziehung - Was ist das?
Man versteht unter frühkindlicher Entwicklung also auch die Entwicklung von motorischen, sprachlichen, kognitiven und sozial-emotionalen Fähigkeiten.
Frühkindliche Reflexe
Frühkindliche Reflexe sind automatische, gleichbleibende Bewegungsabläufe 4).
Reflexe entwickeln sich schon in der Schwangerschaft. Sie spielen anfangs eine wichtige Rolle.
Jedes Kind wird mit vielen Reflexen geboren. Im Laufe des ersten Lebensjahres werden diese Reflexe gehemmt. Sie werden immer mehr durch bewusste Bewegungen ersetzt. Das Kind beginnt, sich zu drehen und zu krabbeln.
Wenn diese Entwicklung nicht richtig durchlaufen wird, können sogenannte Restreflexe übrigbleiben. Sie können das Kind in der weiteren Entwicklung beeinträchtigen.
In Kindergarten und Schule zeigen sie sich in Unruhe, Konzentrationsmangel, Lern-, Sprach- und Verhaltensproblemen (5).
» Bewegungserziehung und Konzentration bei Kindern fördern
Erinnern und lernen
Das kindliche Erinnerungsvermögen steigt stetig an. Babys können sich Erlebnisse nur gerade mal 24 Stunden lang merken. Im Alter von 9 Monaten bleibt die Erinnerung bereits einen Monat 6).
Aber: Kleine Kinder haben kein Langzeitgedächtnis. Deshalb haben wir an die ersten drei bis vier Jahre meist keine Erinnerung - oder höchstens in einzelnen Bildern.
Auch bis zum 5. und 6. Lebensjahr behalten wir wenig. Erst ab dem ca. 6. Lebensjahr ändert sich das.
Motorische Fähigkeiten
Die motorische Entwicklung beginnt schon im Mutterleib. Motorische Handlungen benötigen eine perfekt aufeinander abgestimmte Koordination vieler verschiedener Muskeln. Die Bewegungen werden über die Nerven gesteuert 7).
Ab 9 Monaten: Das Kind kann stabil sitzen, greifen, mit Hilfe Stehen und Krabbeln.
Ab 12 Monaten: Erste Schritte, freies Stehen, gezieltes Greifen.
Ab 18 Monaten: Treppensteigen an der Hand, freies Laufen, springen, hüpfen, alleine essen, Treppen steigen.
Die motorische Entwicklung ist für die soziale Interaktion wichtig. Sie ist eng mit den geistigen Fähigkeiten verknüpft.
Sozial-emotionale Fähigkeiten
Kinder müssen den Umgang mit anderen Menschen erst lernen. Sie müssen lernen, wie sie mit ihren eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer Menschen umgehen.
Schritt für Schritt erwirbt das Kind Kompetenzen. Nach und nach wird es im sozialen Miteinander immer selbstständiger.
Auch bei kleinen Kindern ist es wichtig, auf das Kind einzugehen. Jedes Kind verdient es, dass seine Gefühle ernstgenommen werden.
In jeder Altersstufe sollten die Eltern auch ihr eigenes Verhalten reflektieren und hinterfragen.
Gemeinsames Spielen ist eine schöne Möglichkeit, um die emotionalen und sozialen Fähigkeiten des Kindes zu fördern.
Kognitive Fähigkeiten
Zu den kognitiven Fähigkeiten zählt das Denken und die Wahrnehmung.
Bis Vollendung des 1. Lebensjahres: Dinge und Objekte sind eine untrennbare Einheit. Im kindlichen Denken geht es um Erfahrungen, die das Kind macht.
Das Kind lernt, Freude durch Lachen und Angst durch Weinen auszudrücken. Wiederkehrende Handlungsabläufe geben Sicherheit.
Gegen Ende des ersten Lebensjahres erlebt das Kind starke Gefühle von Trennungsangst
Ab 1. Lebensjahr: Das Kind entwickelt differenziertere Vorstellungen von Dingen und Vorgängen.
Es kann sich Raum und Zeit und Objektpermanenz immer besser vorstellen: Ein Gegenstand oder ein Lebewesen existieren auch dann noch, wenn es nicht mehr zu sehen ist.
Ab 2. Lebensjahr: Das Kind erkennt bekannte Wege und vertraute Personen. Erste intensive Emotionen wie Ärger und Freude
Sprachliche Fähigkeiten
Kinder nehmen schon im Bauch Stimmen wahr. Aber in den ersten Lebensmonaten entwickeln sie ein Gespür für die Sprach- und Satzmelodie, ihre Muttersprache, die Betonung von Wörtern.
Sie erproben auch ihre eigene Stimme immer mehr 8).
1. Lebensjahr: Erste Doppelsilben, erste Worte
2. Lebensjahr: Das Kind lernt bis zu fünf neue Begriffe am Tag
Zum Ende des dritten Lebensjahres verwendet ein Kind rund 1000 Wörter aktiv 9).
Wichtig ist, wie auch bei anderen kindlichen Fähigkeiten: Jedes Kind hat eine individuelle Sprachentwicklung. Vgl. auch Sprachförderung bei Kindern
Bei stark verzögerter Sprachentwicklung ist es wichtig, die Gründe herauszufinden. Evtl. auch interessant für dich: Kinder in Armut – Was Armut mit Kindern macht und wie sie prägt
Ausblick & Gedanken zum Schluss
Ein Neugeborenes oder kleines Kind nimmt die Welt anders wahr. Man kann es nicht mit einem älteren Kind oder gar einem Erwachsenen vergleichen.
In jedem Lebensabschnitt braucht ein Kind eine andere Art von Zuwendung.
Aber nicht nur jedes Alter ist anders. Auch jedes Kind ist anders. Das eine lernt schneller laufen. Das andere spricht mehr als andere gleichaltrige Kinder.
Manche Kinder brauchen etwas länger. Andere sind frühreif. Sofern das Kind weder Probleme noch Pathologien zeigt, hilft einfach: Geduld und individuelle Förderung.
Auch wenn die frühkindliche Entwicklung die wichtigste Rolle spielt: Die gesamte Kindheit ist wichtig. Auch ältere Kinder leiden.
Deshalb möchten wir wirtschaftlich und sozial schwachen Kindern mit unseren Kinderhilfsprojekten nicht nur eine gesunde Ernährung, sondern auch Nestwärme ermöglichen.
Macht das alles gut? Leider nicht. Aber es macht ein Kinderleben ein Stückerl besser.
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1) Neurologen und Psychiater im Netz: Entwicklung von Gehirn und Nervensystem
2) DocCheck Flexikon: Entwicklungsphasen nach Freud
3) Familie, Kita, Jugendhilfe und Beratung: Gehirnentwicklung bei Babys und Kleinkindern - Konsequenzen für die Familienerziehung
4) Ingrid Dünnewald: Frühkindliche Reflexe und restaktive/anhaltende frühkindliche Reflexe
5) Der Lernkompass: Persistierende frühkindliche Reflexe
6) Neurologen und Psychiater im Netz: Entwicklung von Gehirn und Nervensystem
7) NetDoktor: Motorische Entwicklung
8) Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Grundzüge der Sprachentwicklung
9) Kindersprache: Sprachentwicklung im dritten Lebensjahr
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