Russlands vergessene Kinder – Dr. Sereda kämpft um jedes Leben

In der russischen Hauptstadt St. Petersburg leben tausende von Sozialwaisen auf der Straße, die Opfer von Gewalt, Organhandel und Missbrauch werden. Der Kinderarzt Dr. Sereda kämpft seit 30 Jahren um jedes einzelne Kinderleben. Und das ganz allein, ohne die Hilfe des Staates.

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Die Straßen-Kinder von St. Petersburg

Der renommierte Professor & Arzt Dr. Vassilij Sereda kämpft seit vielen Jahren unermüdlich um das Leben von Straßenkindern.

Kinder in St. Petersburg – misshandelt, verstoßen & vergessen

Zehntausende Sozialwaisen – oft als Straßenkinder bezeichnet – soll es allein in St. Petersburg geben. Die meisten dieser Kinder leben ohne Obdach, um ihren gewalttätigen und alkoholabhängigen Eltern zu entkommen. Einige wurden von der Familie verstoßen oder in ein Kinderheim abgeschoben, weil sie behindert oder krank sind. Andere werden von ihren Eltern selbst immer wieder auf die Straßen geschickt.

Das Elend dieser Kids ist so schrecklich, wie wir es nur aus Filmen kennen: Die vergessenen Kinder Russlands schlafen in Heizungskellern oder verwahrlosten Häusern, um Schutz vor der eisigen Kälte zu suchen. Sie sind zur Prostitution gezwungen, klauen, waschen Autos oder leisten irgendeine andere Knochenarbeit, um sich ein bisschen Geld fürs Essen zu verdienen.

Um die klirrende Kälte, den nagenden Hunger und die Schrecken der Straße zu ertragen, betäuben sich viele mit den Dämpfen von Klebstoff & Benzin.

Kaum jemand erbarmt sich der leidgeplagten Kinder und Jugendligen. Außer Dr. Vassilij Mikaelovic Sereda, der sich die Rettung der Straßenkinder von St. Petersburg zur Lebensaufgabe gemacht hat.

Solange ich lebe, werde ich mich um diese Kinder kümmern!“

 

Dr. Seredas tapferer Kampf um Kinderleben

Dr. Sereda ist renommierter Kinderarzt sowie Universitätsprofessor in St. Petersburg und bereits ein Legende in der Stadt. Seit 1997 unterrichtet er Soziologie und baut an einem Ausbildungssystem für Sozialarbeiter – etwas, das es in Russland noch nie gab.

Bekannt wurde er vor allem durch seine „Nachtpatrouillen“ in den 1990er Jahren: Mutig brach er jede Nacht alleine auf und besuchte Ruinen, Schächte und andere Schlupflöcher quer durch die ganze Stadt hindurch, um die „Unbeaufsichtigten“ (wie die Behörden die Straßenkinder nennen) mit heißen Getränken, Essen und Medizin zu versorgen. Dem Allernötigsten eben.

Dr. Sereda ist kein Unbekannter. Für sein unglaubliches Engagement wurde ihm die Anerkennung der ganzen Welt zuteil. Mehrere Dokus wurden über ihn gedreht, zahlreiche Zeitungsberichte über ihn veröffentlicht. Nur der russische Staat betrachtet Seredas Arbeit kritisch und lässt ihm keine Hilfe zukommen, da er damit Missstände publik macht.

Drogensucht, HIV, körperlicher und emotionaler Missbrauch, brachiale Gewalt – Dr. Sereda hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die vergessenen Kinder von St. Petersburg mit allen Kräften vor weiteren schrecklichen Erlebnissen zu schützen.

Nachtpatrouillen muss er nicht mehr machen. Früher hatte der Mediziner auch mehrere Behandlungsheime für Straßenkinder unter seiner Aufsicht. Allerdings gingen ihm in den Jahren die Mittel aus. Heute führt Dr. Sereda eine Zuflucht für Mädchen in Not, das sich speziell auf ihre Resozialisierung konzentriert.

 

Hilfe für Mädchen in Not – Dr. Seredas Resozialisierungszentrum

Die Chance auf ein echtes Leben

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Unter den vergessenen Kindern von St. Petersburg nehmen Mädchen nochmal eine Sonderrolle ein, weil sie häufiger Opfer von Gewalt werden. Viele von ihnen sind stark traumatisiert, an HIV, Tuberkulose, Hepatitis oder anderen Infektionen erkrankt.

Darum wird hier ganz besonders auf ihre Sicherheit und ihre Bedürfnisse eingegangen. Vor allem unternimmt Seredas Team alles, um ihnen neuen Lebensmut und vor allem neue Zukunfts-Chancen zu ermöglichen.

Im Resozialisierungszentrum leben sie wie in einer großen Familie, lernen ihre Rechte und Pflichten kennen. Ein wichtiger Faktor ist die psychotherapeutische Betreuung der Kinder, gleichzeitig erhalten Sie Schulbildung und Nachhilfe.

Genau dieser ganzheitliche Ansatz ist es, der Dr. Seredas Arbeit so wertvoll und einzigartig macht:

  • Haben die Kinder noch eine Familie, dann bemüht sich das Team des Arztes, mit ihr zu sprechen und wenn möglich zu vermitteln. Auf diese Weise soll den Eltern und den Kindern geholfen werden.

  • Die geistige und körperliche Gesundheit der Kinder ist ihm sehr wichtig. Denn viele der vergessenen Kinder Russlands sind von ihrem Straßenleben mit Krankheiten und Drogensucht gezeichnet.

  • Ein Großteil der Sozialwaisen musste Missbrauch und Misshandlung erleben und leidet unter psychischen Problemen. Daher legt Dr. Sereda viel Wert auf eine professionelle, psychologische Betreuung.

  • Selbst in rechtlichen Problemen bemühen sich Dr. Sereda und sein Team, zu helfen, wo sie nur können. Leider werden die Kinderrechte in Russland wenig beachtet, auch wenn sie formal existieren. Zum Beispiel, wenn ein Kind einen Laib Brot stiehlt. Für solche kleine Vergehen erlässt der Staat oft drakonische Strafen wie 2 Jahre Gefängnis bzw. Kinderlager.

 

So leben die vergessenen Kinder von St. Petersburg

Wie wichtig es ist, die Kinder von der Straße zu holen, zeigen Vorfälle wie dieser: Ein 8-jährige Junge wurde von zwei anderen mit Benzin übergossen und angezündet. Und das nur, weil er sich wie die anderen beiden ein paar Rubel mit Autowaschen verdienen wollte (5). Die Konkurrenz und Gewaltbereitschaft ist sehr hoch, oft weil die Kinder es nicht besser kennen und aus Hunger und Elend verzweifeln.

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Bei all dem schrecklichen Leid, das die vergessenen Kinder von Russland erleben müssen, überrascht es nicht, dass ein Großteil von ihnen in die Kriminalität abrutscht. Gute 80 % der Insassen der Jugendhaftanstalt in St. Petersburg kommen von der Straße. Manche von ihnen wollen dorthin: denn hier erhalten sie kostenlos ein warmes Bett, genügend Essen und sogar Unterricht.

Doch auch in dieser Einrichtung sind sie nicht sicher vor Gewalt. Prügeleien und Angriffe sind unter den strapazierten Kinder- und Jugendseelen leider sehr hoch. Insbesondere Mädchen wurden häufig Opfer von Übergriffen – sei es durch erwachsene Betreuer, Polizei oder Altersgenossen.

 

Straßenkinder & Sozialwaisen – Opfer des Umbruchs

Wie kommt es, das in St. Petersburg, aber auch in anderen Großstädten wie Moskau, so viele Kinder auf die Straßen flüchten? Um das zu erklären, müssen wir in die Geschichte Russlands blicken. Tatsächlich ist die große Anzahl an verwahrlosten und obdachlosen Kindern eine indirekte Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion: als in den 1990er Jahren Reformen eingeführt wurden, verstärkte sich die Kluft zwischen Arm und Reich noch stärker.

Das zeigen auch offizielle Statistiken aus Russland: so waren 1992 bereits 1/3 der russischen Gesamtbevölkerung arm. Unabhängige Experten meinen dagegen, damals lebte bereits die Hälfte der Russen unterhalb der Armutsgrenze.

1998 begann sich das Problem in Zuge der Finanzkrise zu verschärfen. Die Wirtschaftskrise von 2008 bis 2009 sorgte ebenfalls für herbe Rückschläge. Auch die Wirtschaftsprobleme von 2014 bis 2016 in Folge der Krim-Annektion hinterließen tiefe Spuren in der Bevölkerung.

Heute finden sich arme Familien vor allem in den ländlichen Gebieten Russlands. Gleichzeitig scheint die städtische Armut in den Metropolen rasant zuzunehmen. Insbesondere was die Kinderarmut betrifft, ist Russland ganz vorn dabei: 24 % der russischen Kinder wachsen in ärmsten und unmenschlichen Verhältnissen auf. Sie leben nicht in relativer Armut, sondern in existenzieller, absoluter Armut. Hier geht es buchstäblich ums Überleben.

 

Sozial verwaist – die Zerrüttung der Familie als Kernproblem

Neben den politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist vor allem ein soziales Problem die Grundlage dafür, dass es so viele Kinder auf die Straßen von St. Petersburg treibt: Die instabilen und problematischen Familienverhältnisse. Ausgelöst durch:

  • Haushaltseinkommen unter Existenzminimum

  • schlechte medizinische Grundversorgung

  • Alkohol- und Drogenmissbrauch der Eltern

  • Zunahme psychischer und körperlicher Krankheiten (HIV, Aids)

  • dürftiges Rentenniveau

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Die meisten russischen Straßenkinder sind im eigentlichen Sinne Sozialwaisen: das bedeutet, sie haben noch Eltern und Familie bzw. einen Elternteil. Sozial Verwaist und emotional verarmt sind diese Kinder, weil die Eltern und Verwandten sich nicht um sie kümmern können oder wollen (9). Das hat verschiedene Gründe, wie oben schon angedeutet:

Einige sind selbst zu schwer krank (psychisch oder körperlich), um ihre elterlichen Pflichten erfüllen zu können. Sie sind schlichtweg nicht in der Lage dazu. Andere sind alkohol- oder drogenabhängig und lassen ihre Kinder aus der eigenen Not heraus verwahrlosen. Manche befinden sich wegen diverser Vergehen kurz- oder langfristig im Gefängnis, so dass die Kids die meisten Zeit auf sich allein gestellt sind.

Vor allem aber, sind viele Familien so bitterarm, dass sie ihre Kinder aus Verzweiflung und Ausweglosigkeit in einem Kinderheim abgeben. Doch in den Heimen herrschen ebenfalls so desaströse Zustände, dass die Kids lieber auf der Straße leben.

 

Russlands vergessene Kinder sind Ausgestoßene

Glanz und Glorie sowie Armut und Elend leben hier Seite an Seite. Die gewaltige Ungleichheit, die in St. Petersburg sowie im ganzen Land herrscht, ist nicht zu übersehen. Vor allem kranke Menschen und Kinder werden stark benachteiligt und herabgewürdigt. Viele Russen meiden Kranke und Behinderte, aus Angst, sich bei ihnen anzustecken, oder betrachten sie als Menschen zweiter Klasse.

Sehr viele Sozialwaisen haben eine Behinderung oder Infektionskrankheit. Ihre Eltern möchten darum nichts mit ihnen zu tun haben. Denn in Russland sind Krankheiten und Behinderungen ein soziales Ausschlusskriterium und damit fast schon ein Todesurteil. Es gibt zwar staatlich geführte Kinderheime, doch in ihnen verwahrlosen die Kinder geistig, emotional und körperlich.

Zum Beispiel berichtete eine Pflegerin in einem der staatlichen Heime davon, dass es schon ein Erfolg sei, wenn den Kindern 3 mal pro Tag die Windeln gewechselt wurden (10).


Quellen:

1) Wolfgang Schlott, Klaus Bednarz: Die enterbte Generation. Russische Jugend nach der Perestroika.
2) AWO Bundesverband e.V.: Jugendhilfe in Russland. Grundlagen und Konzepte.
3) Irina Scherbakowa: Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten
4) Studie der UNESCO in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ): Lage der Jugend in Russland
5) Britta Schmitt: Obdachlose Kinder als soziales Problem der russischen Metropolen. Ein Bericht über die Situation der Straßenkinder in St. Petersburg und die örtlichen Hilfsorganisationen, die sich ihrer annehmen.
6) Prof. Dr. Natalja Evgeneva Tichonova: Analyse Armut in Russland (bpb –Bundeszentrale für politische Bildung)
7) Dr. Ann-Mari Sätre: Russland-Analysen: Armut und Sozialarbeit der Frauen in Russland (Länder-Analysen Ausgabe 390 vom 22.09.2020)
8) Irina Pisarenko: Problemkinder in Russland: Statistik (inter-pedagogika.ru)
9) Wikipedia: Waise – Sozialwaisen
10) Benedict Neff: Russlands vergessene Kinder
11) Deutsche Lebensbrücke: Straßenkinder & Sozialwaisen

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Tamara Niebler

Tamara ist studierte Philosophin (Mag. phil.) & freie Journalistin in München. Sie unterstützt unsere Redaktion mit jeder Menge Fachwissen und kritischen Denkanstößen. Tamaras Motto: „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka)

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