Armutsprävention geht durch den Magen
Wenn Kinderarmut dazu führt, dass Grundschulkinder morgens hungrig in die Schule kommen, dann wirkt sich das auf den ganzen Unterrichtstag aus: Nervosität, Konzentrationsstörungen und schlechte Leistungen sind die traurigen Folgen.
Die Deutsche Lebensbrücke hilft Kindern in Not.
In Deutschland widmet sie sich mit ihren Projekten Frühstücksklub, Kochklub und Mittagstisch der Linderung und der Prävention von Kinderarmut und deren Folgen.
Vgl. auch Kinderarmut erkennen – subtile Anzeichen
MIA
Alleine essen macht keinen Spaß. Vor allem Grundschulkinder gehen meist ohne Frühstück aus dem Haus, wenn die Eltern schon vor ihnen zur Arbeit gehen müssen.
„Mia, wenn der Wecker klingelt, stehst du gleich auf, hörst du? Im Schrank stehen Cornflakes, Milch ist im Kühlschrank. Tschüss, mein Schatz.“ „Ciao, Mami“, murmelt Mia und ist sofort wieder eingeschlafen.
Natürlich hört sie den Wecker nicht, und als sie aufwacht, ist es schon viertel vor acht. Hastig schlüpft sie in Hose und Pulli, Jacke und Schuhe. Halt, den Schulranzen nicht vergessen! Zum Frühstücken bleibt keine Zeit. Aber Mia hätte ohnehin keine Lust gehabt, allein am Küchentisch zu sitzen.
Ohne Frühstück und Pausenbrot kommt Mia gerade noch rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn in die Schule. Doch schon bald wird der Hunger sich bemerkbar machen und das Mädchen vom Aufpassen abhalten.
Mehr erfahren » Kinderfrühstück: Warum es so wichtig ist
Leerer Bauch studiert nicht gern
Mia ist kein Einzelfall. Inzwischen geht bereits jedes 5. Kind in Deutschland ohne Frühstück aus dem Haus und startet hungrig und unkonzentriert in einen langen Schultag. Die Folgen sind leider dramatisch.
Vor Unterrichtsbeginn eine leckere und gesunde Grundlage für den Tag zu sich nehmen – und das auch noch mit den Freundinnen und Freunden: so macht Schule den kleinen Spaß!
Denn zum Lernen braucht der Körper Nahrung, sonst fällt der Blutzuckerspiegel ab. Ein Mangel an Magnesium und Eisen, das für den Sauerstofftransport im Blut zuständig ist, mindert die Lernleistung. Auch wenn ein Kind zu wenig trinkt, reagiert sein Gehirn darauf ähnlich wie bei Hunger: Es wird müde.
Um in der Schule aufpassen und dem Unterricht gut folgen zu können, müsste Mia morgens am besten Vollkornprodukte, wasserreiche Obstsorten und Gemüse frühstücken. Denn das sind Langzeitenergiequellen.
Leerer Magen – schlechte Noten: Eine fatale Kombination
„Kinder, die über einen längeren Zeitraum und meist schon seit der Grundschule täglich mit leerem Magen in den Unterrichtstag starten, leisten weniger, bekommen schlechtere Noten und haben demzufolge nur begrenzte Bildungschancen. Denn in einem Schulsystem, das in den ersten vier Jahren die Weichen für den weiteren Bildungsweg stellt, werden Kinder wie Mia sehr schnell abgehängt, und das dauerhaft“, weiß Petra Windisch de Lates.
Die Pandemie hat diese Entwicklung weiter verschärft.
Mehr erfahren » Was Armut mit Kindern macht
In den Frühstücksklubs der Deutschen Lebensbrücken tanken die Kinder Kraft und Energie für den ganzen Schultag.
Kinderarmut in Deutschland nimmt zu
Inzwischen sind in Deutschland bereits 21,3 Prozent der Kinder von Armut bedroht. Das sind 2,8 Millionen. Zwei Drittel von ihnen erlebten in den vergangenen fünf Jahren durchgehend oder wiederkehrend Armut.
Kinderarmut in Deutschland betrifft nicht nur die Ernährung. Auch sozial sind arme Kinder oft benachteiligt. Bindungen gehen verloren, sie erleben weniger Gemeinschaft.
Dadurch sind sie überall benachteiligt, denn wenn es Familien am Geld fehlt, leiden die Kinder am meisten. Traurige Wahrheit: während laut Mikrozensus das Armutsrisiko in Deutschland von 16,9 Prozent im Jahr 2021 auf 16,7 Prozent im Jahr 2022 minimal gesunken ist, ist es bei jungen und alleinerziehenden Menschen gestiegen.
Unter allen Haushaltstypen waren Alleinerziehende 2022 mit einem Anteil von 42,9 Prozent mit Abstand am häufigsten von Armut bedroht, gegenüber 42,3 Prozent im Jahr 2021 und 40,4 Prozent in 2020. » Mehr erfahren: Kinderarmut 2023
MAX
Seit der Trennung seiner Eltern lebt Max mit Mutter und 2 Geschwistern in einer 2- Zimmer-Wohnung. Max ist der Älteste, und er leidet am meisten darunter, dass plötzlich alles anders ist: kein eigenes Zimmer, kein Platz, um zu lernen, ungestört Musik zu hören oder Computer zu spielen.
Kinder von Alleinerziehenden sind mittags oft alleine zu Hause. Bei unseren Mittagstischen essen sie mit Freundinnen und Freunden. Das schmeckt - und danach werden auch mal Hausaufgaben gemeinsam gemacht.
Die Mutter arbeitet als Reinigungskraft, am Wochenende bedient sie in einer Bäckerei. Es gibt Tage, da sehen die Kinder sie kaum.
Heute musste Max seinen kleinen Bruder Tim aus der Kita abholen, denn er hat Fieber. Als sie die Wohnung betreten, ist niemand da. Mama arbeitet heute bis 22 Uhr.
Max schiebt eine Tiefkühlpizza in den Ofen und setzt sich mit dem Kleinen zum Essen auf die Couch vor den Fernseher. Wenn die Schwester kommt, soll sie sich um Tim kümmern. Aber dann hat Max keine Lust mehr auf Hausaufgaben. Er wird den Rest des Nachmittags am Handy verbringen.
Viel mehr als ein Essen
Petra Windisch de Lates: „Es geht nicht nur um die Ernährung. Vielen unserer Kinder fehlt auch das familiäre Miteinander. Meist liegt es nicht am mangelnden Interesse der Eltern an ihren Kindern, sondern es ist der tägliche Kampf, um finanziell über die Runden zu kommen, unter denen das Familienleben leidet: unregelmäßige Arbeitszeiten, mehrere Jobs, Schichtarbeit.
Da bleibt kein Zeitfenster für eine gemeinsame Mahlzeit. Sehr oft fehlt den Eltern nach einem langen Arbeitstag dann auch einfach die Kraft, ein gesundes Essen vor- oder zuzubereiten.
Auf sich allein gestellt, greifen Kinder praktisch immer zu dem, was wir als Fast oder Junk-Food bezeichnen: Pizza, Hamburger, Pommes oder Döner.“
Unsere Ehrenamtlichen bereiten nicht nur liebevoll das Frühstück vor. Sie hören den Kindern auch zu, lachen mit ihnen oder trocknen auch mal ein Tränchen. Das tut so gut!
In allen Projekten der Deutschen Lebensbrücke steht das Miteinander im Vordergrund. Die Frühstücksklub-Kinder kommen gerne schon um viertel nach sieben in die Schule, um gemeinsam mit ihren Freundinnen und Freunden zu frühstücken.
Dabei wird immer viel erzählt und gelacht. „Und unsere ehrenamtlichen Frühstücksklub-Helferinnen und Helfer sind mittendrin und haben schon so manches kleine Geheimnis erfahren, ein Tränchen getrocknet oder sich mit einem Kind über etwas besonders Schönes gefreut“, weiß Petra Windisch de Lates.
Prominente Patinnen
Promis aus Film und Fernsehen unterstützen unsere Frühstücksklubs und kommen gerne frühmorgens zum Frühstücken vorbei, wie hier Saskia Vester.
Alle Angebote sind kostenlos
Bei den Mittagstischen bekommen Kinder, die nach der Schule auf sich allein gestellt sind, eine warme Mahlzeit. Ganz ohne Kosten für die Eltern. Genauso wie in den Frühstücksklubs geht es auch bei den Mittagstischen nicht nur um ein gesundes und schmackhaftes Essen als Grundlage für die Bewältigung des Schulalltags und des Lernpensums.
„Auch hier spielen die Kommunikation und das soziale Miteinander eine zentrale Rolle. Gemeinsam essen bedeutet, auf die anderen zu achten. Tisch decken, abräumen und Geschirr spülen, gehören dazu. Nebenher tauschen sich die Kids über alles aus, was sie gerade beschäftigt.
Z. B. die Hausaufgaben oder Sachen, die sie im Unterricht nicht so ganz verstanden haben, und sie helfen einander. Leider ist das eine Erfahrung, die vielen Kindern – vor allem, aber nicht nur – in prekären Familienverhältnissen heute fehlt“, so Windisch de Lates.
Olivia
Olivias Eltern sind beide berufstätig und arbeiten im Schichtbetrieb, der Vater bei einem Sicherheitsdienst, die Mutter im Krankenhaus. Das Einkommen reicht gerade so für die Miete und die Kosten für den Einkauf im Discounter.
Oft lernen die Jugendlichen erst im Kochklub der Deutschen Lebensbrücke, dass Gemüse und Obst lecker schmecken und gar nicht teuer sein müssen.
Extras sind nicht drin. Auch, was das Essen angeht. „Obst und Gemüse sind viel zu teuer. Außerdem schmecken die nicht so gut wie Pizza“, davon war Olivia noch vor einem Jahr überzeugt.
Daheim bediente sie sich aus der Tiefkühltruhe. Bis ihre Freundin sie in den Kochklub mitnahm. Inzwischen ist Olivia ein Profi, wenn es darum geht, mit einem kleinen Budget schmackhafte und gesunde Gerichte zu zaubern
„Besonders toll ist, dass wir einfach alles zusammen machen: planen, einkaufen, kochen. Ich freu mich immer auf den Kochklub“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Meine Lieblingsgemüse sind Gurken und Tomaten. Die schmecken richtig lecker. Das hätte ich gar nicht gedacht.“
Gesund essen geht auch günstig
Der Kochklub ist immer an eine Freizeiteinrichtung gekoppelt. Voraussetzung ist eine gut ausgestattete Küche. Mehrmals in der Woche treffen sich die Kinder dort zum gemeinsamen Kochen. Den Essensplan haben sie vorher zusammengestellt und genau kalkuliert, was wieviel kosten darf. Mit einer detaillierten Liste gehen sie dann zusammen einkaufen. Auch das Kochen ist eine gemeinschaftliche Aktion. Geleitet wird der Kochklub von einem kocherfahrenen Menschen, der/die mit Rat und Tat zur Seite steht.
Planen, einkaufen, kochen, essen. Alle für einen und einer für alle, heißt es in unseren Kochklubs. Oft nehmen die Jugendlichen diese Erfahrung mit nach Hause. Dann profitiert die ganze Familie davon.
„Immer mehr Kinder wissen gar nicht mehr, woraus ihr Essen besteht. Sie sind außerdem geradezu abhängig von dem Zucker, der in fast allen Convenience Produkten versteckt ist. In unseren Kochklubs erleben viele zum ersten Mal, wie lecker ein frischer Tomaten- oder Gurkensalat schmeckt. Oder dass Spaghetti mit gebratenen Zucchini besser sind als Dosenravioli“, berichtet die Vorstandsvorsitzende der Deutschen Lebensbrücke.
Eine neue Erfahrung ist auch die Tatsache, dass frisches Essen nicht teurer ist als Pizza & Co. „Allerdings bedarf es dafür einer gewissen Planung, und man muss beim Einkaufen auch auf Sonderangebote achten. Aber gerade der Preisvergleich macht den Kindern großen Spaß, sie fühlen sich dabei wie kleine Detektive.“
Die Kochklubs funktionierten auch während Corona. Da holten sich die Kids ihre “Säckchen” ab und kochten zu Hause.
Was Hänschen lernt …
Petra Windisch des Lates beobachtet immer wieder, dass die Kinder ihre veränderte Einstellung zur Ernährung nach Hause tragen. „Sie berichten zum Beispiel davon, dass sie daheim einen Essensplan aufstellen und selbst einkaufen gehen. Das entlastet die Eltern, stärkt das Selbstvertrauen der Kinder und verbessert nachhaltig die Ernährung der ganzen Familie.“
Vgl. Praktische Ernährungsbildung und handlungsorientiertes Lernen
Manchmal werden im Kochklub sogar berufliche Weichen gestellt, und Jugendliche bewerben sich aufgrund ihrer Erfahrung in diesem Projekt um einen Ausbildungsplatz als Koch oder Köchin.
Auch Schauspielerin Mona Seefried ist eine Frühstücksklub-Patin. Sie brachte den Kindern ausnahmsweise Schokoküsse mit.
Warum engagiert sich die Deutsche Lebensbrücke gegen Kinderarmut?
Horte, Kitas, Mittagsbetreuung – das alles gibt es doch. Warum braucht es da die Angebote der Deutschen Lebensbrücke? Ist es nicht eigentlich Aufgabe der Eltern, sich um Bildung und Ernährung der Kinder zu kümmern?
„Ja und nein“, erklärt Petra Windisch de Lates. „Nicht erst seit der Pandemie wissen wir, dass Armut ein Teufelskreis ist. Das Schlimmste: Armut vererbt sich von Generation zu Generation. In Deutschland ist Armut zwar nicht unmittelbar tödlich. Aber die typischen Merkmale sind überall gleich: keine oder schlechte Arbeit, niedriges Einkommen und schlechte Gesundheit.
Bei uns äußert sie sich vor allem in Bildungsarmut, emotionaler Verarmung und schlechter Ernährung. Wer einmal in diesem Teufelskreis steckt, hat oft nicht die Kraft, sich adäquat um die Entwicklung der Kinder zu kümmern. Und die Schulen übernehmen diese Aufgabe bei uns leider nicht in ausreichender Form.“
Mehr dazu » Gegen Kinderarmut – Kinder brauchen jetzt Hilfe
Mit den Projekten gegen Kinderarmut hilft die Deutsche Lebensbrücke direkt und pragmatisch dort, wo Kinder Hilfe brauchen. Zum Beispiel in den Frühstücksklubs.
Unsere Forderungen
Das fängt damit an, dass Kinder aus finanziell und sozial benachteiligten Familien auch in der Schule nicht die gleichen Chancen haben. Dafür bräuchten sie als Kompensation zur mangelnden häuslichen Unterstützung intensivere pädagogische und fachliche Betreuung.
Mehr dazu » Bildungsarmut – Bildungsungleichheit – Bildungsbenachteiligung – Kinderarmut: Bildung allein bietet keinen Schutz
Dazu gehören, das hat die Coronakrise gezeigt, auch die notwendigen Lernmittel wie Tablets etc. „Aber die wenigsten Schulen können das leisten. Es fehlt an Geld, Platz und Personal. Auch sind die bestehenden Angebote, z. B. die Mittagsbetreuung inkl. Essen, selten kostenlos. Damit kommen sie gerade für Familien, die diese erzieherische und betreuerische Unterstützung dringend brauchen, oft gar nicht erst in Betracht! Denn wenn das Geld kaum für den Alltag reicht, sind selbst „ein paar Euro“ zu viel.
Förderprogramme für bedürftige Familien sind zumeist, wie die gesamte Bildungspolitik, klassische Länderaufgaben. Zentrale Förderprogramme wie der Digitalpakt sind leider nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.“
Sind Frühstücksklub und Co. nur ein Tropfen auf den heißen Stein? Ja. Aber wenn dieser Tropfen täglich rund 500 Kinder und Jugendliche satt und glücklich macht, dann erfüllt er seinen Zweck. Übrigens: die Nachfrage nach den Projekten zur Armutsprävention der Deutschen Lebensbrücke steigt und steigt.
Die Deutsche Lebensbrücke unterstützt also da, wo Familien heute schnelle, konkrete und vor allem unbürokratische Hilfe brauchen. „Wir fragen nicht nach Belegen für eine Bedürftigkeit und verlangen auch keine Nachweise, damit ein Kind zu uns kommen oder bei uns bleiben darf.“
Das senkt die Hemmschwelle deutlich, und die Nachfrage nach einem Platz in Frühstücksklub, Mittagstisch oder Kochklub wächst ständig. Natürlich können diese rein durch Spenden finanzierten Angebote die Entwicklung nicht aufhalten.
„Deshalb lautet unsere Forderung an Bund, Länder und Kommunen: viel mehr Geld für Bildungseinrichtungen, viel mehr fachübergreifende pädagogische Betreuung, flächendeckende Nachmittagsangebote, flächendeckende Ausstattung mit digitalen Lernmitteln. Und Ernährungskunde von Anfang an!“
Wenn auch Du für unsere Projekte zur Armutsprävention von Kindern spenden möchtest, hier ist der Link
In unseren Frühstücksklubs, Mittagstischen und Kochklubs in vielen deutschen Städten erhalten täglich ca. 450 Kinder ein leckeres Frühstück oder eine warme Mahlzeit.
35 Jahre Kinderhilfe
Dieser Artikel ist Teil einer Serie, die wir anlässlich unseres 35-jährigen Jubiläums veröffentlicht haben » Mehr erfahren: 35 Jahre Kinderhilfe.
In dieser Artikel-Reihe berichten wir über Erfahrungen, bedeutsamsten Meilensteine und bewegende Geschichten, die wir in mehr als 3 Jahrzehnten Kinderhilfe miterleben durften.