Das Bild vom Kind – Was ist ein Kind? Und was bedeutet Kind-sein?
Das Bild vom Kind ist ein Fachbegriff aus der Pädagogik, der in Kitas oder Schulen ausschlaggebend ist. Doch auch in der Familie und ganz besonders für die Gesellschaft ist es relevant, was als Kind und Kind-sein definiert wird, um zu verstehen, wie sich der richtige Umgang mit Kindern gestaltet und warum es heute so unterschiedliche Sichtweisen auf Kinder gibt.
Das Kinderbild hat sich stark gewandelt
Wurden Kinder in früheren Jahrhunderten als unmündige, kleine Erwachsene behandelt, gelten sie in den heutigen Erziehungswissenschaften als selbständige Individuen in einer schutzbedürftigen Lebensphase.
Definition – Das Bild vom Kind
Das Bild vom Kind ist die zentrale Ausrichtung von Kindertagesstätten und Pädagogik. Dabei gibt es kein einheitliches Bild vom Kind, sondern verschiedene Perspektiven:
das Kind als unbeschriebenes Blatt
das Kind als Samenkorn
das kompetente Kind
vgl. auch: Die 10 wichtigsten Kinderrechte – Warum Kinderrechte wichtig sind sowie Kindeswohlgefährdung in Deutschland – Evtl. auch interessant für dich: Eingewöhnung Kita: Ablauf & Tipps
Was heißt es, ein Kind zu sein?
Der Begriff Kind stammt vom ahd. kint, zu Deutsch: “Nachkomme, Kind” und geht auf das indogerm. Wortfeld “Stamm, Art; gebären, Leben schenken” zurück (9).
Darin drückt sich bereits die Bedeutung des Kindes innerhalb der Familie aus: Es ist das Werdende innerhalb des Familienverbandes und gleichzeitig dessen Zukunft.
Ambiguität des Begriffs „Kind“
Andererseits ist das Wort “Kind” ein Abgrenzungsbegriff. Als Kind werden Menschen bezeichnet, die nicht erwachsen sind.
Das spiegelt sich auch in der UN-Kinderrechtskonvention wider, wonach Kinder grundsätzlich alle Menschen sind, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.
„Im Sinne dieses Übereinkommens ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt.“
Es ist daher der Gegenbegriff zum Erwachsenen sowie zu Eltern, Vater und Mutter. Seit langer Zeit herrscht daher um den Begriff der Kindheit eine hitzige Debatte.
Das Bild vom Kind in unserer Gesellschaft
Nach dem französischen Historiker Ariès ist Kindheit ein kulturelles Konstrukt. Zum Beispiel hätte es im Mittelalter überhaupt keine Idee von Kindsein gegeben.
Dieser radikalen Auffassung widerspricht der Philosoph Archard: ein „Konzept“ von Kindheit existiert in allen Kulturen, aber es ist anders konzipiert als das moderne Bild vom Kind.
In unserer Gesellschaft hat sich letztendlich die Idee durchgesetzt, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, sondern Personen mit spezifischen Eigenheiten, Interessen und Bedürfnissen. (5)
Vgl. Kindheit prägt das Leben: Eltern-Bindung & spätere Gesundheit
1) Das Kind als unbeschriebenes Blatt
Maßgeblich sind hier äußere Einflüsse (von Pädagogen und Gesellschaft), denn ihre Wirkung bestimmt im Endeffekt, was aus einem Kind wird.
Das Kind selbst wird als natürliches, aber unreifes, unethisches Wesen begriffen, das zur Erlangung der Reife (Vervollkommnung) die Erziehung benötigt. Vgl. auch: Was ist Erziehung? – Bedeutung, Ziele & Aufgaben
Diese Auffassung gilt heute als veraltet. Demnach wäre ein Kind ein Produkt aus der Summe seiner (Lern-)Erfahrungen im Leben. Aber wie kann dann aus einem so determinierten Wesen ein selbstverantwortlicher Mensch werden?
2) Das Kind als Samenkorn
Diese Vorstellung betont die Autonomie (vgl. Autonomiephase) des Kindes. Ein Kind ist damit nicht unreif oder unvollkommen, sondern von Natur aus gut.
Es entwickelt sich am allerbesten aus sich selbst heraus. Je weniger Erwachsene also das Kind beeinflussen (zum Beispiel durch Bildungsangebote oder Normen), desto besser kann ein Kind sich selbst verwirklichen lernen.
Bezugspersonen dürfen zwar die Rolle des “Gärtners” einnehmen (Bewässern, Licht verschaffen), mehr aber auch nicht.
Auch diese Auffassung ist missverständlich und kritisch zu sehen. Was ist mit der besonderen Vulnerabilität von Kindern, die sie von Erwachsenen unterscheidet?
3) Das kompetente Kind (neues Bild vom Kind)
In der neuen Pädagogik besitzt das Kind alle Grundanlagen, die es für sein Glück braucht.
Doch abhängig von Alter und persönlicher Reife sind diese Eigenschaften verschieden ausgeprägt und entwickelt.
Um seine Anlagen gut auszubilden, braucht ein Kind Vorbilder und Unterstützer, die aktive Rolle nimmt es aber selbst ein.
Kinder sind schon seit Geburt darauf ausgelegt, selbst Erfahrungen zu sammeln
Wussten Sie, dass sogar schon Babys die Grundfähigkeiten besitzen, um zu denken? Interdisziplinäre Untersuchungen lassen darauf schließen, dass ein Kind immer der aktive Part in seiner Entwicklung ist.
Neugeborene streben mit sämtlichen Sinnen nach Erfahrung. Und das nicht erst in der Kita, sondern längst vorher: nämlich sobald sie auf der Welt sind.
“Von den bei der Geburt angelegten 100 Milliarden Nervenzellen bleiben schließlich diejenigen erhalten, die durch Übung und Erfahrung aktiviert werden.” (6)
Philosophie: Der Wert der Kindheit
Die unterschiedlichen Auffassungen gründen sich letztlich auf die Frage, ob die Kindheit eines Menschen ein Zustand sei (Kind = Seiendes), der eigenen Wert besitzt, oder eine Phase (Kind = Werdendes) und damit lediglich ein Durchgangsstadium ist.
Philosophisch und auch praktisch gesehen, geht es bei dieser Diskussion darum, welchen Sinn wir der Kindheit zusprechen und wie wir mit Kindern umgehen sollen.
Hat sie einen intrinsischen Wert, also eine Bedeutung in sich (Zustand)? Oder hat sie einen instrumentellen Wert, also nur eine Bedeutung in Abhängigkeit zum erstrebten Erwachsensein (Phase)?
Persönlicher und unpersönlicher Wert von Kindheit
Wichtig ist zu unterscheiden, was für wen gut ist. Gehe ich von einem persönlichen Wert der Kindheit aus, dann frage ich: Welchen Wert hat das Kindsein für das jeweilige Kind oder für sein ganzes Leben?
Konzentriere ich mich hingegen auf unpersönliche Werte, wird das Kind zum Instrument: es geht darum, dass die Existenz von Kindern für andere gut ist.
Allgemein heißt es zum Beispiel, dass Kinder ihren Eltern eine Bedeutung im Leben geben. Das entwertet Kinder und ihre Lebensphase jedoch.
Kindheit als Zustand
Wer die Kindheit als Zustand ansieht, betrachtet das Kind als eigenständige Persönlichkeit (vgl. Rousseaus Erziehungsroman Emile). Ein Kind ist nicht unreif oder defizitär.
Eine Maßnahme zur Erziehung muss daher gut begründet sein und darf nur der physischen Fürsorge dienen.
Die Kritik daran: Kindheit wird von vielen Vertretern dieses Ansatzes zum magischen Moment der Unschuld ideologisiert.
Was ist aber mit der besonderen Verletzlichkeit und Abhängigkeit von Kindern (kindliche Vulnerabilität)? Denn hierin unterscheiden sich ja Kinder wesentlich von Erwachsenen.
Kindheit als Phase
Wenn die Kindheit kein Zustand ist, sondern eine Phase, die man für das Erwachsenenalter durchleben muss, nennt sich das eine teleologische Bestimmung. Kindheit ist dann nur eine Vorstufe zum Erwachsensein, besser gesagt, die Vorbereitung darauf.
Die Erziehung muss daher die kindliche Autonomie fördern. Zum Beispiel durch Hobbys, Interessen und andere Aktivitäten, die dem Kind helfen, eigene Einstellungen und Werte auszubilden.
Problem: Der Wert der Kindheit leitet sich vom Erwachsensein ab und ist diesem untergeordnet. Wenn es danach geht, müsste man jedem Kind ermöglichen, so viel Kindheit zu überspringen, wie nur möglich, es also schnell in die Welt der Erwachsenen einzuführen. Denn ein Kind zu sein ist damit immer schlechter als erwachsen zu sein.
Was sind Kinder?
1) defizitorientierte Definition:
Kinder sind Wesen, die relevante Eigenschaften (v.a. Vernunft, Selbständigkeit, Urteilsfähigkeit) nicht haben.
2) romantisierende Definition:
Kinder haben besondere Fähigkeiten, die Erwachsenen teilweise überlegen sind (neugierig, offen, kreativ, phantasievoll).
Kindheit als Selbstwert (intrinsisch)
Die Kindheit instrumentell zu begreifen, missachtet nach philosophischem Verständnis das Subjekt: nämlich das Kind selbst. Zudem hat die Kindheit auch für Erwachsene großen und prägenden Einfluss im Hinblick auf die spätere Lebensqualität. » Selbstwertgefühl von Kindern stärken
Das Kindsein besitzt einen unabhängigen Wert - und das macht Kindheit zu einer von Natur aus wertvollen Phase des Menschen, die es zu schützen und zu fördern gilt.
Beispiele für intrinsische Güter der Kindheit
Es gibt keinen Konsens, welche Güter speziell zur Kindheit gehören und ihr Wert verleihen. Oft werden Bedingungen, Fähigkeiten und Förderung miteinander verschmolzen. Im Folgenden daher nur ein paar Beispiele für die intrinsischen Güter des Kind-seins:
freie Zeit
unstrukturiertes Spiel
unbeschwerte, soziale Interaktion
Gefühl der Sorglosigkeit
Fähigkeit zur Überraschung
Freude am Lernen & Experimentieren
Spontaneität
Gefühl der Zeitlosigkeit
absolutes Vertrauen
Daneben gibt es auch Positionen, die überzeugt sind, dass Kinder einen besonderen Zugang zu ihren Fähigkeiten haben, sie also qualitativer erleben und erfahren als Erwachsene.
Philosophie der Kindheit
Die Philosophie der Kindheit ist ein sehr junges Forschungsfeld, doch angesichts neuester Entwicklungen umso erforderlicher. Dabei arbeitet sie mit 3 wesentlichen Implikationen:
gängige Bilder vom Kind müssen kritisch auf ihren historischen, normativen und kulturellen Gehalt untersucht werden.
Kindheit lässt sich nicht mit einzelnen Fachwissenschaften erfassen, sondern mit allen zusammen. Kinderforschung ist genuin interdisziplinär.
Kindheit ist ein essenzieller Aspekt der conditio humana. Kindheit und Kinder sind universale, fundamentale und anthropologisch verankerte Realitäten.
Das komplementäre Bild vom Kind
Mit Hilfe der sogenannten Komplementaritätstheorie versuchen Experten, die Probleme der vorgestellten Kindheitsmodelle zu lösen. Diese besagt nämlich: Das Leben als Erwachsener muss mit der Kindheit in der richtigen Art und Weise verbunden sein, da Kind-sein und Erwachsen-sein zusammen eine Sequenz bilden.
Der komplementäre Ansatz gründet sich in der Einsicht, dass das, was eine gute Kindheit ausmacht, teilweise darin seine Basis haben muss, dass sie ein gutes Leben als Erwachsener fördert.
Was für ein Kind gut ist, entscheidet sich also unter Berücksichtigung dessen, was ihm auch langfristig gut tut, wenn es kein Kind mehr ist.
Eine Eigenschaft, wie zum Beispiel absolutes Vertrauen, besteht nicht nur für die Kindheit, sondern setzt sich idealerweise bis ins Erwachsenenleben fort und stärkt die Fähigkeit, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen (kausale Netzwerktheorie).
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„Das Kind, nicht etwas bloß das einzelne Kind, die einzelnen Kinder, sondern das Kind, ist freilich eine Wirklichkeit. Dass in dieser Stunde (..) über die ganze Fläche dieses Planeten hin neue, schon bestimmte und doch noch bestimmbare Menschen geboren werden, ist zwar eine Myriade von Wirklichkeiten, aber es ist auch Eine. Das Menschengeschlecht fängt in jeder Stunde an.“
Fazit: Das Bild vom Kind
Klar wird, dass in unserem modernen Bild vom Kind eine Menge unterschiedliche Diskurse miteinfließen. Was in Fachdiskursen oft abstrakt und hoch kompliziert klingt, hat praktischen Bezug für die Gestaltung unserer Gesellschaft.
Was macht eine gute Kindheit aus?
Welche Rechte und Pflichten haben Eltern?
Welche Rechte und Pflichten haben Kinder?
Inwieweit darf der Staat in die Erziehung eingreifen?
Wie haben Bund und Länder die Kinder zu schützen oder zu fördern?
Antworten auf diese Fragen zu finden, bleibt eine gesellschaftliche & politische Aufgabe, zu der jede*r Einzelne beitragen kann.
» Die Würde des Kindes (Philosophie) – Kinderrechte sind Menschenrechte
Quellen:
1) R. Jaszus et al.: Sozialpädagogische Lernfelder für Erzieherinnen. Holland/Josenhans, 2008
2) Vollmer, K.: Bild vom Kind. In: Vollmer, K.: Fachwörterbuch für Erzieherinnen und pädagogische Fachkräfte. Freiburg: Verlag Herder, 2012
3) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BFSFJ)
4) J. Giesinger: Kindeswohl und die Würde des Kindes aus Sicht der Philosophie
5) B. Bleisch, M. Hoffmann u. J. Lösche: Ethik: Familienethik. Ein Forschungsbericht. In: Information Philosophie, Heft 1/2015, S. 16-29
6) Herrmann, K.: Das (neue) Bild vom Kind. Niedersächsisches Institut für frühkindliche Entwicklung (Nifbe) 2014
7) J. Giesinger: Ist es moralisch relevant, ein Kind zu sein?
8) Handbuch “Philosophie der Kindheit”. Hrsg. v. J. Drerup und G. Schweiger, Metzler 2019
9) Deutsches Herkunftswörterbuch: Kind