Mutismus: mein Kind spricht nicht – Ursachen & Symptome

Wenn ein Kind nicht spricht, sind viele Eltern verunsichert und besorgt. Ist mein Kind sehr schüchtern? Oder leidet es an einer ernsthaften Störung wie dem (selektiven) Mutismus?

Lesen Sie hier, wann Sie handeln müssen, wenn Ihr Kind schweigt, und was Sie tun können.

Mutismus bei Kindern

Wenn Kinder schweigen und nicht reden, kann die Sprachstörung Mutismus dahinter stecken. Umso wichtiger ist es, Anzeichen zu erkennen.

„Kein Kind schweigt, weil es dies will!“

(A. Buschmann, Dr. Dipl.-Psych., ZEL-Zentrum)

Manche Kinder können nicht sprechen, obwohl sie rein organisch, wie jeder Mensch, dazu in der Lage sind. Es gibt also keine körperlichen Ursachen für das auffällige Schweigen in bestimmten Situationen oder vor gewissen Personen.

Die Beschreibungen besorgter Eltern klingen dann meist so:

 

Ben ist ein normaler Junge. Zuhause redet er wie ein Wasserfall und spielt ausgelassen mit seinem besten Freund. Doch sobald er in der KITA ist, wird er still und verstummt plötzlich.

Natürlich bemerkten wir, dass Ben weder zur Begrüßung noch zum Abschied etwas sagt, doch wir dachten uns, die Situation ist eben neu für ihn und seine Schüchternheit legt sich von selbst.

Wie schlimm es wirklich ist, haben wir erst durch seine Erzieherin erfahren: auch jetzt noch, nach 4 Monaten, redet er mit niemandem – auch keinen anderen Kindern. Er baut keinen Blickkontakt auf und schweigt, selbst wenn er direkt gefragt oder angesprochen wird. Wir verstehen das alles nicht. Ben ist gesund. Zuhause verhält er sich total normal.“

 

Die normale Sprachentwicklung

Natürlich verläuft die Sprachentwicklung nicht bei allen Kindern gleich schnell. In der Regel

  • beginnen Kinder ab 1 Jahr einzelne Wörter (z.B. Mama, Papa) zu sagen.

  • Im 2. Lebensjahr ist ihr durchschnittlicher Wortschatz bereits auf 50 Wörter angewachsen.

  • Und dann gibt es da noch die late Talker (late Bloomer), also Spätzünder im Sprechen. Diese Kinder beginnen recht spät damit, Sätze zu bilden, holen das aber problemlos nach.

Vgl. auch Sprachentwicklung bei Kindern + Sprachförderung bei Kindern

 

Wenn Kinder verstummen…

Etwas völlig anderes ist es, wenn Kinder plötzlich auffällig verstummen und sich zurückziehen, wie im obigen Zitat beschrieben. Mutismus ist eine psychische Krankheit, die schwerwiegende Folgen für die Entwicklung von Kindern haben kann.

Wenn ein Kind nicht spricht, wird es von Lehrern & anderen Erwachsenen oft als stur, bockig oder extrem schüchtern eingestuft. In vielen Fällen glauben die Eltern und Erzieher*innen, das Kind werde aus seinem Schweigen „schon noch herauswachsen“.

Leider erhalten dadurch Kinder, die an dieser Form der Kommunikationsstörung leiden, viel zu oft keine (rechtzeitige) Hilfe.

 

Was ist Mutismus?

Der Begriff stammt vom Lateinischen „mutus“ für stumm. Mutismus (auch psychogenes Schweigen genannt) ist eine Störung der Kommunikationsfähigkeit, die auf psychische Ursachen zurückzuführen ist.

Sehr häufig geht das pathogene Schweigen mit einer Sozialphobie einher. Depressionen bei Kindern können jedoch auch zum Verstummen führen.

Mutismus bei Kindern hat nichts mit gewöhnlichem Fremdeln zu tun. Fremdeln ist eine natürliche Entwicklungsphase, die von Kind zu Kind unterschiedlich stark ausgeprägt ist und mal länger, mal kürzer andauern kann. Mutismus hingegen ist eine Krankheit, die behandelt werden muss.

Die gute Nachricht: Mutismus ist sehr sehr selten. Von 1000 Kindern sind 1-7 davon betroffen (2), die Wahrscheinlichkeit für diese Erkrankung ist also sehr gering.

 

Was ist selektiver Mutismus?

Selektiver Mutismus (auch elektiver Mutismus) bezeichnet Kinder, die nur in bestimmten Situationen oder vor bestimmten Personen nicht sprechen. Zum Beispiel reden betroffene Kinder innerhalb der Familie viel und verhalten sich völlig normal, schweigen im Kindergarten jedoch und ziehen sich zurück.

Der Selektive Mutismus ist im ICD-10 unter Punkt F94.0 so definiert:

„Dieser ist durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht. Diese Störung ist üblicherweise mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden." (4)

 

Was ist totaler Mutismus?

In besonders schweren Fällen, zum Beispiel in Folge eines Traumas, entsteht ein totaler Mutismus. Das Kind verstummt komplett, es äußert sich weder innerhalb des vertrauten Familienkreises noch Fremden gegenüber.

Was ist akinetischer Mutismus?

Beim akinetischen Mutismus liegt eine neurologische Ursache vor. Dieses Krankheitsbild tritt durch Gehirnschädigungen bei Schlaganfällen, einem Schädel-Hirn-Trauma oder Hirntumoren auf.

 

Mutismus-Symptome bei Kindern (allgemein)

Mutistische Kinder sind körperlich völlig gesund. Sie haben keine Probleme mit dem Hörsinn und sind imstande, zu sprechen. Mutistische Züge zeigen sich dafür im Verhalten:

  • Das Kind spricht nicht in bestimmten Situationen, zum Beispiel vor anderen Erwachsenen oder im Kindergarten. Doch zuhause und mit vertrauten Personen redet es ganz normal.

  • Zuhause redet teilweise extrem viel (Nachholbedarf).

  • Das Kind hat Schwierigkeiten Interaktionen einzuleiten (z.B. Begrüßung/ Abschied/ Dank/ Fragen).

  • In der Schule wird das Nicht-Sprechen oft mit guten schriftlichen Leistungen kompensiert.

  • Das Kind scheint die Umwelt, vor allem Stimmungen & Emotionen, genauer zu beobachten und wahrzunehmen als andere Altersgenossen, gleichzeitig hat es Probleme die eigenen Gefühle auszudrücken.

 

Mutismus-Anzeichen beim Nicht-Sprechen

Die meisten selektiv mutistischen Kinder wollen sprechen, können jedoch nicht, weil die starke Angst sie fesselt. Häufig sind daher nervöse Stressreaktionen in Situationen des Nicht-Sprechen-Könnens zu beobachten:

  • blanker, ausdrucksloser Gesichtsausdruck

  • starre Lippen, kein Lächeln

  • versteinerter Blick

  • meidender bzw. fehlender Blickkontakt

  • eingefrorene Körperhaltung, starre Mimik & Gestik

  • steifer Körper, eingeklemmte Arme, verkrampfte Hände

  • verzögerte Reaktionen

 

Mutismus Ursachen – vielfältig & komplex

Migrationshintergrund, Bindungsstörung, genetische Veranlagung, Stottern oder Stress in der Familie – es finden sich viele Risikofaktoren für Mutismus im Kindesalter. Doch beim (selektiven) Mutismus existiert nicht DER Auslöser an sich, aber eine Reihe von Faktoren, welche die Entstehung mutistischer Züge begünstigen. Vgl. auch Bindungsorientierte Erziehung oder Was ist Erziehung?


Manchmal „erbt“ das Kind die mutistischen Züge direkt von den Eltern (Milieueinfluss), die selbst unter einem geringen Selbstwert oder einer Angststörung leiden. Oft sind es jedoch familiäre Stress-Situationen, die zu einem Schweigeverhalten führen. Zum Beispiel, wenn Mutter oder Vater ihr Kind oft mit lauter Stimme zum Still-sein ermahnen. » Selbstwertgefühl von Kindern stärken


Auch Streit zwischen den Eltern oder Trennungen können zur Überforderung bei Kindern führen, aus der das Schweigen erwächst. Dem Kind ist es nicht möglich zu reagieren, der Druck ist zu viel.


Kinder mit Migrationshintergrund können einen regelrechten Kulturschock erleben, wenn sie in den Kindergarten oder die Schule kommen. Insbesondere, wenn sie Deutsch noch nicht gut verstehen. Sie fühlen sich aufgrund der Sprachbarriere missverstanden und isoliert, so dass die Gefahr groß werden kann, dass sie verstummen.

 

Welche Folgen hat Mutismus bei Kindern?

Hieraus bildet sich ein Teufelskreis, der das Kind in seiner Entwicklung stark beeinträchtigt. Denn vermeiden Heranwachsende sprachliche Kommunikation, findet auch kein sozial-emotionales Lernen statt und die Sprachentwicklung stagniert.

Als wäre das nicht schon schlimm genug, führt unbehandelter Mutismus oft zu schwerwiegenden Problemen im Erwachsenenalter. Zum Beispiel Panikattacken und weiteren Angststörungen.

 

In welchem Alter tritt Mutismus am häufigsten auf?

Die meisten Fälle von Mutismus finden sich im Vorschulalter – in der Regel beim Übergang in den Kindergarten. Viele Fachleute sprechen hier von Frühmutismus.

Der Kindergarten ist für das Kind zunächst einmal eine neue Lebenswelt, fern von der sicheren Obhut der Familie. Neue Eindrücke, neue Menschen, neue Regeln – das sind echte Herausforderungen für alle Kinder.

Doch mutistische Kinder sind davon überfordert, sie erleben diese Umwelt als bedrohlich und fremd. Das Schweigen ist dann als Flucht zu verstehen, um in der bedrohlichen neuen Lebenswelt kein Risiko einzugehen.

 

Verdacht: Mutismus – Was Eltern jetzt tun können

Schweigt Ihr Kind länger als 4 Wochen auffällig in bestimmten Situationen oder vor bestimmten Personen, sollten Sie Ihren Kinderarzt oder HNO-Arzt aufsuchen, der bei berechtigtem Verdacht eine sprachtherapeutische Untersuchung veranlasst.

Übrigens wird eine Mutismus-Therapie von den Krankenkassen übernommen.


Mutismus Test online

Wer sich vorab eine erste Einschätzung verschaffen möchte, kann auf der Website des Vereins „StillLeben e.V.“ einen Mutismus-Test machen.


Wer behandelt Mutismus bei Kindern?

Ein mutistisches Störungsbild bei Kindern gehört in die professionellen Hände eines Sprachtherapeuten. Darunter fallen Berufszweige wie Logopädie, Sprachbehindertenpädagogik sowie Atem- & Stimm-Lehrer, aber auch Kinder- und Jugendtherapeuten. Eine Hilfestellung bietet auch hier der oben genannte Verein mit seiner Therapeutensuche

Je früher (s)elektiver Mutismus behandelt wird, desto besser sind Chancen, dass sich Sozial- und Sprechverhalten wieder vollständig normalisieren. Ca. 50 % der betroffenen Kinder spricht später wie jedes andere Kind, ohne bleibende Probleme oder Schwierigkeiten.

Wann und ob eine Heilung zustande kommt, ist jedoch individuell sehr unterschiedlich. Es gibt einige Fälle, da hält Mutismus bei Kindern nur für ein paar Monate an. Doch ebenso gibt es Kinder, die über viele Jahre darunter leiden.


 

Weitere Hilfsstellen bei Mutismus

Mutismus ist ein komplexes Phänomen, das unbedingt fachärztlich abgeklärt werden muss. Dieser Artikel fasst daher nur die wichtigsten Informationen zum Thema zusammen. Für weitere und spezielle Infos, können die folgenden Seiten hilfreich sein:

 

Deutschland

www.dbl-ev.de Deutscher Berufsverband für Logopädinnen und Logopäden

www.dgs-ev.de Deutsche Gesellschaft für Sprachheil-pädagogik

www.selektiver-mutismus.de Verein „StillLeben e.V.“

Schweiz

www.logopaedie.ch Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband (DLV).

www.kinder.ch Logopädisches Zentrum für kleine Kinder, Winterthur.

www.sprachheilinstitutionen.ch Übersicht des Angebots in der Schweiz

Österreich

www.sprachheilpaedagogik.at Österreichische Gesellschaft für Sprachheil-pädagogik

 

Fazit: Mutismus – mein Kind spricht nicht

Mutismus ist keine einfache Krankheit und braucht eine professionelle Behandlung. Doch auch die Eltern können ihr Kind dabei unterstützen, diese Störung zu bewältigen.

Als Faustregel gilt: Machen Sie bitte keine Show aus dem Thema

Zum Beispiel mit Fragen wie „Und hast Du heute in der Schule gesprochen?“ oder Bemerkungen wie „Aber Du brauchst doch keine Angst haben!“ Das lenkt lediglich negative Aufmerksamkeit auf die “Defizite” des Kindes.

Was ängstliche oder mutistische Kinder vor allem benötigen, ist Verständnis und Sicherheit. Das können Sie als Mutter oder Vater durch aktives Zuhören, verständnisvolle Reaktionen und liebevolle Hilfestellung in Angstsituationen vermitteln.


Quellen:
1) StillLeben e.V.: Was ist Selektiver Mutismus? – Informationen für Eltern
2) dbl – Deutscher Bundesverband für Logopädie e.V.
3) Kindersprache: Mein Kind spricht nicht – Late Talker, late Bloomer
4) WHO: ICD-10
5) DocCheck Flexikon: Akinetischer Mutismus
6) Lingufinio: Leidet mein Kind an Mutismus?
7) mutismus.net: Selektiver Mutismus – die 10 häufigsten Anzeichen
8) Anke Buschmann: Selektiver Mutismus – Informationen für Eltern und andere Interessierte
9) ZEL – Zentrum für Entwicklung und Lernen (Heidelberg)
10) Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V.: Mutismus Leitlinien für Pädagogen und Schulen
11) Katja Subellok, sprachtherapeutisches Abmulatorium der Technischen Universität Dortmund
12) Stiftung „Haus der kleinen Forscher“: Service-Portal Integration
13) Dr. Sandra Hermes: Selektiver Mutismus – Mehr als schüchternes Schweigen
14) Deutsches Grünes Kreuz e. V.: Mutismus – Und plötzlich herrscht Schweigen: Weshalb spricht ein Kind nicht, obwohl es sprechen kann?

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Tamara Niebler

Tamara ist studierte Philosophin (Mag. phil.) & freie Journalistin in München. Sie unterstützt unsere Redaktion mit jeder Menge Fachwissen und kritischen Denkanstößen. Tamaras Motto: „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka)

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