Kinder brauchen Kinder – Zur Bedeutung von Freundschaften

Brauchen Kinder andere Kinder, um sich gesund zu entwickeln? Während es eine lange Tradition in der Pädagogik gibt, die diesen Satz einhellig bejaht, gibt es andere Stimmen, die den Kinderfreundschaften die Notwendigkeit absprechen. Was stimmt denn nun? Eine philosophische Perspektive.

Kinder brauchen Kinder

Kinder brauchen Freunde 

für ihre persönliche und ethische Entwicklung. Sie lernen voneinander, erfahren Gemeinschaft und inspirieren sich gegenseitig.

Warum soziale Kontakte für Kinder wichtig sind

Die ersten Freundschaften bei Kindern entwickeln sich meist im Alter von 1,5 Jahren. Dabei gehen Kinder mit anderen Kindern nicht gleich eine Freundschaft fürs Leben ein, aber zumindest entwickeln sich in dieser Zeit die ersten Beziehungen zu Spielkameraden der gleichen Altersstufe. 

In der Pädagogik sieht man gemeinsame Aktivitäten von Kindern im Rahmen eines sozialen Gefüges: Kinder brauchen andere Kinder, um das eigene Selbstbild zu entwickeln und ihre Rolle in der Gemeinschaft einzuüben.

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Kinder brauchen andere Kinder

Mit anderen Worten: Freunde fördern die emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern.

Aber inwiefern tun sie das?

Brauchen Kinder wirklich Kinder oder können auch Erwachsene den Platz von Kinderfreundschaften einnehmen?

Die Frage ist eigentlich gar nicht so theoretisch, wie es im ersten Augenblick vielleicht klingt.

In unserer modernen Zeit, in der Gefühle von Einsamkeit (selbst unter Kindern) rasant zunehmen bzw. in den Fokus geraten und Medien regelmäßig über Kinderarmut berichten, ist die Frage nach der Bedeutung & Wirkung von Freundschaften in der Kindheit hoch relevant.

Vgl. auch: Vereinsamung – Was Einsamkeit aus Menschen macht

 

Freundschaft in der Philosophie

Bei Freundschaften geht es nicht um Zweckgemeinschaften oder Lerngruppen, auch wenn sich Nutzen & Bedeutung teilweise überschneiden. 

Gerne werden Freundschaften allerdings sehr einseitig interpretiert, exemplarisch zum Beispiel von der Pädagogin Dr. Margarete Blank-Mathieu:

Kinder spüren sehr bald, dass die eigene Person mit Hilfe einer Freundschaftsbeziehung an Bedeutung gewinnt.“ (1) Weil Kinder ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber Erwachsenen spürten, sollen sie sich intuitiv Verbündete in anderen Kindern suchen und so ihr Selbstbewusstsein stärken, so erklärt die Expertin weiter.

Vgl. auch: Selbstbewusstsein bei Kindern stärken – 10 Übungen & Tipps

Eine solche Definition von Freundschaft unter Kindern greift nach philosophischem Verständnis viel zu kurz: Freundschaften sind eine Form von persönlichen Beziehungen.

Laut Philosophie unterscheiden sich freundschaftliche Beziehungen von Liebe und anderen Beziehungsformen durch erfahrbare Gleichheit und Gegenseitigkeit – die Nutzenmaxime bleibt hier völlig außen vor.

 
Die Freundschaft gehört zum Notwendigsten in unserem Leben. In Armut und im Unglück sind Freunde die einzige Zuflucht. Doch die Freundschaft ist nicht nur notwendig, sondern auch schön!
— Aristoteles
 
Warum Kinder Kinder brauchen

Unterschied Peer-Group & Freundschaft bei Kindern

Je nach Fach und Ansatz werden unterschiedlichste Begriffe in diesem Zusammenhang genutzt: Peer-Group, Freundschaften, Cliquen, Jugendkulturen, Szenen etc.

Im Grunde beschreibt die Peer-Group eine soziale Gruppe von Personen etwa gleichen Alters, gleicher Gesinnung oder gleicher Art.

Die Peergroup ist ein wichtiger Erfahrungsraum von Kindern (Lernen, Bildung, Sozialisierung), der mit wachsendem Alter immer mehr an Bedeutung gewinnt.

 

Davon sollte eine Freundschaft zwischen Kindern klar abzugrenzen sein. Nach dem Experten Krappmann (5) ist ein Peer im Hinblick auf die Qualität der Beziehung von einem Freund zu unterscheiden. Unter Freundschaft ist nämlich ausschließlich eine Beziehung zu verstehen, die sich speziell auf die Person richtet. 

 

Inwiefern brauchen Kinder andere Kinder?

Der Pädagoge Emil Zitlau stellt die Formel „Kinder brauchen Kinder“ explizit in Frage:

„Die Aussage suggeriert also, dass der Kontakt zu Kindern eine notwendige Bedingung des Wachstums darstellt. Und daraus abgeleitet würden sich Probleme für die Entwicklung ergeben, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist.“ (6)

Er möchte damit falsche Vorstellungen dementieren, wonach bestimmte Fähigkeiten nur von diesem einen Aspekt abhängen: Dass Kinder Kontakt zu anderen Kindern haben, ist für ihn keine notwendige Bedingung zur Entfaltung der eigenen Fähigkeiten, sondern „nur“ Bereicherung. 

 

Bei dieser Argumentation werden aber 2 Ebenen durcheinander gebracht: Klar entwickelt sich ein Kind auch ohne den Kontakt zu anderen Kindern körperlich und geistig weiter, d.h. es wird erwachsen. Das ist aber nicht die Aussage, wenn es heißt, Kinder brauchen Kinder. Es geht um das Wie.

Wie wird ein Kind erwachsen? 

Es hat einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes, wenn ein psychosoziales Grundbedürfnis, wie Nähe, Respekt und Austausch auf Augenhöhe, zu kurz kommen. Oder Fähigkeiten, wie soziale Verhaltensweisen und Konfliktlösungsarten nicht ausreichend eingeübt werden konnten. Vgl. auch: Kind hat keine Freunde im Kindergarten – Ursachen & Tipps

 

1) Kinder brauchen Kinder fürs vorurteilsfreie Ausprobieren

Es macht im Selbsterleben und Verhalten eines Kindes einen großen Unterschied, ob Autoritätspersonen bzw. erwachsene Bezugspersonen anwesend sind oder es von anderen Kindern umgeben ist. 

Heutige Kinder befinden sich fast ununterbrochen unter Aufsicht. Natürlich ist das vorteilhaft, um Kinder vor etwaigen Gefahren zu schützen. Andererseits reduziert die permanente Obhut den Erfahrungsraum von Kindern.

Soziologen & Pädagogen weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig es für eine gesunde Entwicklung ist, dass Kinder unter sich sein dürfen. Hier können sie sich ausprobieren und einüben, ohne dass ein “Wissender” ihnen stets auf die Finger schaut und bei jedem Fehler aufmerkt. Evtl. auch interessant für dich: Positive Fehlerkultur für Kinder

Noch besser: Wird Kindern nichts vorgegeben, sind sie selbst dazu motiviert, Regeln für das gemeinsame Spiel zu finden. Und Kinder sind sehr gut darin, die Ausgeglichenheit zwischen Durchsetzung der eigenen Interessen und Kompromisse zugunsten anderer auszutesten. 

Ja, das Kind mitunter laut werden, ist nicht zu verhindern. Es wird geschrien, verhandelt, mit Händen gefuchtelt, chaotisch durcheinander gesprochen – aber das alles gehört dazu.

 

2) Kinder brauchen Kinder, um Risiken eingehen zu können

Kinder gehen gerne Risiken ein. Im Gegensatz zu uns Erwachsenen spüren Kinder noch eine anregende Freude am Entdecken und Abenteuer.

Gerade riskante Unternehmungen nehmen in den meisten Kindheitserinnerungen eine besondere Stellung ein. “Weißt du noch, wie wir damals  XY…?” Gleichzeitig möchte wohl niemand von uns diese schönen Erfahrungen missen. 

Wenn Kinder zusammen auf Abenteuersuche gehen oder Risiken in Kauf nehmen, ist das ein großer Schritt in Richtung Selbstfindung und Emanzipation.

Dass Kinder für andere Kinder dabei die besseren Gefährten sind, ist wohl klar. Im Gegensatz zu Erwachsenen, die stark auf Sicherheit bedacht sind, teilen Kinder ihre Begeisterung untereinander – vorurteilslos und echt. Erfahrungen, die Kinder dringend brauchen und auch machen dürfen.

 
Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden, man muss sie auch gehen lassen
— Jean Paul (1763 bis 1825)
 
Kinder brauchen Kinder fürs freie Spiel

3) Kinder brauchen Kinder, um frei zu spielen

Kinder erleben die Zeit noch anders als wir Erwachsene. Für ein Kind ist die Zeit noch zweckfrei und implizit.

Es vergisst beim Spielen die Welt um sich herum und taucht in die Kreativität ein. Oder anders gesagt: Kinder leben im Hier und Jetzt.

Leider werden heutzutage selbst Kinder vom modernen Zeitdruck eingeholt, wenn sie schon in der KITA mit allerlei Angeboten “konfrontiert” werden und viel sitzen sollen. Oder wenn Eltern sich ständig darüber den Kopf zerbrechen, wie sie das Kind beschäftigen können.

Evtl. auch interessant für dich: Eingewöhnung Kita – Ablauf & Tipps

Freie Zeit und freies Spiel sind jedoch die Voraussetzungen dafür, dass sich Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene offen der Interaktion mit anderen Menschen zuwenden. In der Philosophie spricht man in diesem Zusammenhang von Muße.

Muße bedeutet, Zeit für Nichts zu haben. Zweckfreie Zeit ohne Produktivität oder Beschäftigung ist eine wichtige Basis zur Regeneration und Entspannung.

Genau das sind die Quellen für kreative Ideen. 

 

Fazit: Kinder brauchen Kinder (Freundschaften)

Kinder brauchen Kinder-Freundschaften

Der antike Philosoph Aristoteles unterscheidet zwar Arten von Freundschaften, doch jede Art für sich gestaltet unser Leben und schenkt uns die Möglichkeit, in Kontakt mit anderen zu treten. 

Auch trägt jede Freundschaft wesentlich dazu bei, ethisches und soziales Verhalten einzuüben.

Darum heißt es in der Philosophie: Ohne Freundschaften ist es nicht möglich, ein Mensch zu sein. Gemeint ist damit natürlich, Erfüllung als Mensch zu finden.

Freundschaften sollten wir nicht als selbstverständlich ansehen oder als Randphänomen abtun, das eigentlich gar nicht so wichtig sei.

Im Gegenteil: Der Mensch braucht als soziales Wesen die Freundschaft zu anderen. Und das bereits in der Kindheit.


Quellen:

1) Ricarda Gerber: Kinder brauchen Kinder. DGUV, Ausgabe 03/2018, Pädagogik)
2) Gisela Geist: „Kinder brauchen Kinder“ – Gute erste Kinderjahre
3) Götz, S. (2021). Gezieltes Angebot – Philosophieren über Freundschaften. Ein Angebot in der Ü3-Kita. ISSN: 2748-2979. Zugriff am 17.11.2021
4) Hüfner, Kilian und Patrick Leinhos, 2019. Peergroup [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 27.11.2019. [Zugriff am: 15.11.2022]
5) Krappmann, Lothar/Oswald, Hans (1995): Alltag der Schulkinder. Beobachtungen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Weinheim/München: Juventa.
6) Emil Zitlau: Kinder brauchen Kinder – Halbwahrheiten auf dem Prüfstand 1

Tamara Niebler

Tamara ist studierte Philosophin (Mag. phil.) & freie Journalistin in München. Sie unterstützt unsere Redaktion mit jeder Menge Fachwissen und kritischen Denkanstößen. Tamaras Motto: „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka)

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