Hochsensibilität beim Kind und beim Erwachsenen
Wenn das Kind extrem empfindsam ist
Hochsensible Kinder brauchen viel Aufmerksamkeit, vom ersten Tag an. Wie zeigt sich Hochsensibilität bei Kindern - und bei Erwachsenen?
Empfindliche und empfindsame Menschen gab es schon immer. Selbst in der Tierwelt. Lange Zeit wusste man aber kaum etwas darüber. Das änderte sich ab den 1990er Jahren mit der Forschung der Psychologin Elaine Aron. Sie hat die Hochsensibilität ins Scheinwerferlicht gerückt.
Was ist Hochsensibilität?
Einfühlungsvermögen ist nicht das gleiche wie Hochsensibilität
Es gibt viele Synonyme für das Wort hochsensibel. Darunter zählen „zart besaitet“, „Mimose“, „feinfühlig“, „empfindliches Pflänzchen“. Viele der Synonyme sind eher abwertend: Sie zeigen wenig Verständnis und Respekt.
Nicht jeder, der empathisch ist, ist hochsensibel. Es gibt viele potentielle Gründe für stark affektives Verhalten. Manche Menschen reagieren emotionaler als andere. Zunächst gilt es deshalb zu klären, ob tatsächlich Hochsensibilität vorliegt.
Laut Aron sind ca. 15-20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel. Ein großer Teil von ihnen weiß es nicht einmal. Sie spüren nur, dass sie seit ihrer Kindheit anders sind als andere. Ein wissenschaftlich fundierter Test kann helfen, Gewissheit zu erlangen.
Der Unterschied zwischen Hochsensibilität und Hochempfindlichkeit
Sowohl hochempfindliche als auch hochsensible Menschen haben starke Empfindungen. Es gibt aber einen klaren Unterschied:
Hochsensible Menschen sind mit der starken Empfindung geboren.
Hochempfindliche Menschen haben die Tendenz zu starken Empfindungen erst später im Leben entwickelt. Oft wurden sie durch Traumata oder erlerntes Verhalten ausgelöst und aktiviert.
Hochsensibilität ist „eine besondere Art zu sein“
Hochsensibilität ist keine psychische Störung. Es ist keine Krankheit. Es ist vielmehr eine besondere Art zu sein. Viele hochsensible Menschen leben zurückgezogen. Dieser bewusste Rückzug wird oft mit Einsamkeit assoziiert. Das stimmt aber nicht. Hochsensible Menschen brauchen die Zeit für sich und empfinden sie als wohltuend. Sie tanken auf. Deshalb wäre es auch falsch, von Schüchternheit und Gehemmtheit zu sprechen.
Die Vor- und Nachteile der Hochsensibilität
Für nicht-hochsensible Menschen ist es oft schwer, Hochsensibilität nachzuvollziehen. Ihnen ist nicht klar: Das tägliche Leben ist für hochsensible Personen nicht immer einfach. Sie erleben oft ein ständiges Wechselbad der Gefühle. Doch wie fast alles im Leben hat auch die Hochsensibilität gute und schwierigere Seiten.
Die guten Seiten
Hochsensible Menschen haben eine gute Intuition
Sie können sich intensiv in andere Menschen hineinversetzen
Die „schlechten“ Seiten
Hochsensible Menschen denken anders
Sie sind empfänglicher bezüglich Geräuschen
Sie sind überempfindlich im zwischenmenschlichen Bereich
Die fünf Grundtypen der Hochsensibilität
Diese grobe Einteilung wird der vielen Facetten der Hochsensibilität nur ansatzweise gerecht. Es gibt nicht „den einen“ Typ hochsensibler Mensch. Im Gegenteil. Meist tritt die Hochsensibilität in Mischformen auf. Weil es aber einige Tendenzen gibt, werden sie in fünf Grundtypen aufgeteilt.
Sensorische Hochsensibilität:
Die Empfindsamkeit der Sinne ist stark ausgeprägt. Das Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Tasten und Hautgefühl sind sehr intensiv. Schnell kommt es zur Reizüberflutung, Übermüdung und Konzentrationsmangel.
Vgl. Konzentration bei Kindern fördern – 7 Übungen (Kita, Grundschule)
Emotionale Hochsensibilität:
Betroffene Personen nehmen ihre Gefühle viel intensiver wahr, als weniger sensible Menschen. Das macht sie zu empathischen Zuhörern. Was sie erleben, wirkt aber länger in ihnen nach. Sie brauchen mehr Zeit, um es zu verarbeiten. Diese starke Empathie, das sich verlieren in den Gefühlen, kann Angst machen.
Kognitive Hochsensibilität:
Sie denken analytisch und rational, erfassen selbst komplexe Zusammenhänge. Sie begeistern sich für kleinste Details und können sich in ihnen verlieren. Kognitive Hochsensibilität ist unabhängig von Intelligenz.
Ethische Hochsensibilität:
Hier besteht ein starkes Gerechtigkeitsgefühl. Hinzu kommt Idealismus und Pflichtbewusstsein. Das oft ungefilterte Einstehen für Gerechtigkeit kann zu sozialen Schwierigkeiten führen.
Geistige Hochsensibilität:
Geistig Hochsensible sind spirituell, sie haben einen „sechsten“ Sinn. Diese Form der Hochsensibilität ist empirisch kaum belegbar. Dennoch soll sie hier Erwähnung finden.
Die Gefahren der Hochsensibilität
Wie schon erwähnt, ist Hochsensibilität keine psychische Krankheit. Allerdings sind hochsensible Menschen psychisch stärker verletzbar. Sie nehmen die Einflüsse in ihrer Umwelt intensiver wahr. Sie können sich davor nicht ausreichend schützen. Die Umwelt strömt ungefiltert auf sie ein.
Deshalb kann Hochsensibilität ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung psychischer Krankheiten bedeuten. Hochsensible Erwachsene – und Kinder – müssen lernen, mit dem Mangel an Selbstschutz umzugehen. Denn die besondere Art, die Hochsensible auszeichnet, besteht schon lang, bevor die ersten Symptome kommen.
Zudem haben hochsensible Menschen meist wenig Interesse an Wettbewerb und aggressiver Selbstbehauptung. Das kann zu Benachteiligung und mangelnder Durchsetzungsfähigkeit im Alltag führen 1).
Hochsensibilität und psychische Erkrankung
Bei hochsensiblen Menschen sind Gedanken meist eng mit Emotionen assoziiert. Die Folge: Es kann ihnen schwerfallen, rationale Gedanken zu bilden oder nachzuvollziehen. Deshalb ist eine Verbindung zwischen Hochsensibilität und sozialen Ängsten oder der sozialen Phobie durchaus möglich.
Es ist ja auch logisch: Soziale Situationen sind für hochsensible Menschen oft intensiv, komplex und nicht vorhersehbar. Das führt schnell zu einer Überstimulation. Die kognitiven Fähigkeiten und die soziale Kompetenz werden im Alltag beeinträchtigt.
Deshalb ist es für hochsensible Erwachsene - und auch für Kinder - wichtig, auf ihr psychisches Wohlbefinden zu achten.
Hochsensibilität beim Kind
Wie zeigt sich Hochsensibilität bei Kindern?
Hochsensible Kinder nehmen ihr Umfeld deutlicher wahr als andere Kinder. Sie sind empathisch, kreativ und gewissenhaft. So wie hochsensible Erwachsenen nehmen sie äußere Reize stärker wahr. Gleichzeitig fehlt hochsensiblen Kindern oft die Mitte. Sie entsprechen oft einem zu viel- (hyper) oder einem zu wenig- (hypo) Typus.
Hypo-Typus:
Implosiv, viel runterschlucken, wenig äußern
Gewissenhaftigkeit bis zum Perfektionismus, hohe Ansprüche an sich selbst
Schnelle Verunsicherung, Verängstigung, Versuch, sich anzupassen
Kein offenes Zeigen der Gefühle, stattdessen Ausweichen in Jammern oder Rückzug
Unterschwelliges, verstecktes Leiden: Sichtbar eher in körperlichen Symptomen als in Ausbrüchen 2)
Hyper-Typus:
impulsivität
Gefühlsschwankungen und Gefühlsausbrüche
Schnelle Verzweiflung und Frustration bei gefühlt ungerechter Behandlung
Schnelles „Überdrehen“ in Überreizungszuständen
Übertreibung und Ausdrucksfähigkeit bis zur Dramatik
Hochsensible Kinder brauchen aufmerksame Eltern
Auch hochsensible Kinder haben eine besondere Art zu sein. So wie hochsensible Erwachsene unterscheiden sie sich von anderen Kindern. Sie nehmen ihre Umwelt intensiver wahr.
Ein hochsensibles Kind wird hochsensibel geboren. Vom ersten Lebenstag an braucht es mehr Aufmerksamkeit, Verständnis und Begleitung.
Die betroffenen Kinder sind meist empathisch und kreativ. Aber sie brauchen Unterstützung und Einfühlungsvermögen. Die heutigen Kinder haben Glück: Hochsensibilität erfährt immer mehr Aufmerksamkeit. Die Eltern lernen immer häufiger, damit richtig umzugehen.
Für hochsensible Eltern ist es leichter
Hochsensible Eltern verstehen ihr Kind natürlich besser. Sie haben mehr Einblicke und Geduld. Schließlich kennen sie es selbst aus eigener Erfahrung. Sie hatten in ihrer Kindheit die gleichen Hürden. Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn die Umwelt weitgehend ungefiltert auf sie einwirkt.
Vielleicht wissen sie nicht, dass sie hochsensibel sind. Aber plötzlich macht die eigene frühere Verunsicherung, die schnelle Frustration, Sinn. Hochsensibilität ist vererbbar.
Hypersensibilität erkennen – Testfragen
Vielleicht fragen Sie sich beim Lesen dieses Textes, ob Sie oder Ihr Kind vielleicht betroffen sind. Elaine Aron hat die folgenden Anhaltspunkte zusammengestellt. Sie ermöglichen eine erste Einschätzung:
Sind sie von Reizen wie grellem Licht, starken Gerüchen, rauem Stoff oder lauten Geräuschen leicht überfordert?
Kommen Sie leicht aus dem Konzept, wenn Sie eine Menge in kurzer Zeit zu erledigen haben?
Achten Sie besonders drauf, keine gewalttätigen Filme und brutalen TV-Shows zu schauen?
Haben Sie an geschäftigen Tagen das Bedürfnis, sich ins Bett, einen abgedunkelten Raum oder an einen anderen Ort zurückzuziehen, an dem Sie ungestört sind und sich erholen können?
Hat es für Sie hohe Priorität, Ihr Leben so einzurichten, dass Sie aufregende und überfordernde Situationen vermeiden können?
Haben Sie ein reiches und komplexes Innenleben?
Wurden Sie von Ihren Eltern und Lehrern in der Kindheit als sensibel oder schüchtern angesehen?
Für eine detailliertere Einschätzung können Sie und Ihr Kind online einen Test machen: Online-Test Hochsensibilität
Bitte beachten Sie: Auch der Online-Test kann nur ein erster Anhaltspunkt sein. Er vermag kein endgültiges und gesichertes Ergebnis zu liefern. Er ersetzt keine qualifizierte Diagnose.
Wie können „normale“ Eltern mit Hochsensibilität beim Kind umgehen?
Nicht-hochsensible Eltern können sich nur begrenzt in ihr Kind hineinversetzen. Deshalb haben sie oft wenig Verständnis. Sie verlieren schnell die Geduld. Sie sagen Sätze wie: „Stell Dich nicht so an`. `Träumst Du schon wieder?“
Sätze wie diese können für ein hochsensibles Kind schwierig sein. Auch wenn sie nur so „dahingesagt“ sind: Das Kind fühlt sich unverstanden und nicht akzeptiert. Es zieht sich zurück, fühlt sich als einsam und alleingelassen.
Wenn Sie das Gefühl haben, mit ihrem Kind überfordert zu sein, dann holen Sie sich Hilfe. Es ist leider noch immer viel zu oft negativ besetzt, für sich oder das Kind professionelle Unterstützung zu holen.
Ein Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapeut im Umgang mit einem hochsensiblen Kind eine große Erleichterung bringen. Mit verschiedenen Strategien und Leitlinien kann der Alltag für das Kind – und für die Eltern – entspannter und erfolgreicher werden.
Praktische Tipps für den Alltag bei Hochsensibilität beim Kind
Der wohl wichtigste Ratschlag ist: Eltern müssen diese besondere Art zu sein bei ihrem Kind annehmen. Sie müssen das Kind so akzeptieren, wie es ist.
Sie müssen lernen, mit den negativen Seiten umzugehen und die positiven Seiten anzuerkennen. Gleichzeitig ist es wichtig, dass sie auf das Kind Rücksicht nehmen und aufmerksam sind.
Eltern können ihr hochsensibles Kind mit ein paar einfachen Verhaltensweisen sehr unterstützen. Die folgenden Tipps können einen großen Unterschied machen:
Hochsensible Kinder brauchen Struktur
Ein strukturierter Alltag gibt dem Kind Sicherheit
Versuchen Sie, das Kind zu verstehen
Nehmen Sie seine oder ihre Gefühle ernst
Ermöglichen Sie dem Kind Ruhepausen und Zeit für sich
Auch Kinder dürfen einfach mal nein sagen
Hochsensibilität – oder ist es doch etwas Anderes?
Hochsensibilität oder ADHS?
Die einen sagen, es gibt Überschneidungen der Merkmale. Die anderen behaupten, ADHS und Hochsensibilität schließen sich aus. Sowohl ADHS als auch Hochsensibilität zeichnen sich durch eine erhöhte Reizbarkeit aus. Betroffene nehmen die Umwelt ungefiltert wahr. Die Unterscheidung kann deshalb schwierig sein.
Ziemlich sicher ist: Zwischen ADHS und Hochsensibilität besteht kein Zusammenhang. Sie müssen sich aber auch nicht ausschließen. Vgl. auch Umgang mit ADHS-Kindern und 12 ADHS-Erziehungsfehler
Die folgenden Kriterien können eine erste Einteilung ermöglichen
Hochsensibilität beim Kind:
Große Empathie
Blick und Sinn fürs Detail
Nimmt die Atmosphäre im Raum und andere Menschen überintensiv wahr
Das Denken ist oft mit Gefühlen und Empathie verbunden
Es stellt oft tiefsinnige Fragen
Bei Reizüberflutung schottet es sich ab, ist wenig zugänglich
ADHS beim Kind:
Leichte Ablenkbarkeit durch Überforderung durch Außenreize
Starke innere und motorische Unruhe
Hochsensibilität und Hochbegabung
Sehr viele hochbegabte Menschen sind gleichzeitig hochsensibel. Aber nicht alle hochsensiblen Menschen sind gleichzeitig hochbegabt. Etwa zwei Prozent der Kinder gelten als hochbegabt. Hochbegabte Kinder haben sehr früh entwickelte und weit überdurchschnittliche Fähigkeiten und Interessen 3).
Hochbegabte Kinder können in der Schule besondere Leistungen erbringen. Müssen sie aber nicht. Gerade, wenn ihre Besonderheit nicht wahrgenommen wird und sie sich nicht frei entfalten können, können sie auch immense Schwierigkeiten entwickeln.
Da es viele Arten von Intelligenz gibt, kann man letztlich vielleicht sagen, dass auch Hochsensibilität per se eine Form von Hochbegabung ist.
Ausblick
Jedes Kind ist anders. Jedes Kind ist besonders. So wie wir Erwachsenen auch hat jedes Kind Stärken und auch Schwächen. Letztendlich ist die Aufgabe der Eltern, jedem Kind eine individuell angepasste Erziehung zu ermöglichen. Eine Erziehung, in der die Stärken eines Kindes gestärkt und die Schwächen geschwächt werden. Es klingt fast zu simpel, aber: Nehmen und lieben Sie das Kind genau so wie es ist. Denn genau so ist es richtig.
Weitere Tipps findest du hier: Innere Stärke entwickeln – Tipps: Resilienzstärkung im Alltag
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1) ADHSpedia: Hochsensibilität
2) hochsensibilitaet.ch
3) Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V.
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