Emotionale Vernachlässigung von Kindern und ihre Folgen

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Emotional vernachlässigte Kinder

leiden nicht nur in der Kindheit. Viele müssen mit Problemen im Erwachsenenalter kämpfen.

» Kindheit prägt das Leben

Was ist emotionale Vernachlässigung?

Gefühle sind die erste Sprache, die Kinder erlernen. Noch lange bevor sie sprechen können, reagieren sie auf ein Lächeln, beruhigende Worte, einen genervten Gesichtsausdruck, eine liebevolle Berührung. Im Umkehrschluss bedeutet das: Eine Familie, die das Kind emotional vernachlässigt, spricht die „Gefühls“-Sprache des Kindes nicht.

Das ist kein Einzelfall: Viele Eltern ignorieren die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder, weil sie diese aus unterschiedlichen Gründen nicht wahrnehmen oder nicht wahrnehmen wollen (1).

US-Psychotherapeutin und Autorin Dr. Jonice Webb hat sich auf emotionale Vernachlässigung bei Kindern und ihre Folgen spezialisiert. Sie definiert emotionale Vernachlässigung als

 „Das Versagen eines Elternteils oder beider Eltern, sich ausreichend um die emotionalen Bedürfnisse ihres Kindes zu kümmern.“ (2)

 

Die Folge: Emotional vernachlässigte Kinder fühlen sich schon früh zuhause nicht zugehörig, allein und unerwünscht. Sie glauben, ihre Bedürfnisse und Gefühle sind nicht wichtig.

Sie trauen sich nicht mehr, ihre Eltern um Hilfe oder Trost zu bitten. Schon früh haben sie gelernt:

‚Meine Gefühle und Bedürfnisse werden sowieso nicht ernstgenommen, meine Eltern empfinden mich als schwach und jammernd‘.

Aus diesem Defizit entsteht eine negative Selbsterfahrung. So kommt es zu weitreichenden Folgen – bis ins Erwachsenenalter.

 

Emotionen und Bindungsverhalten von Kindern

Wie sehr die Kindheit unser Leben prägt, ist längst bewiesen. Unser emotionales Lernen beginnt in den ersten Lebensmomenten und setzt sich während der gesamten Kindheit fort (1). Besonders während der ersten beiden Lebensjahre bilden wir eine Art „Grundstimmung“ aus - idealerweise eine gute:

Wenn die primäre Bezugsperson (traditionell die Mutter) aufmerksam und feinfühlig mit den Wünschen des Kindes umgeht, dann entwickelt das Kind Urvertrauen. Es fühlt sich sicher, auch wenn die Mama kurzzeitig nicht in Rufweite ist. Vgl. auch Bindungsorientierte Erziehung - Was ist das?

Dann, im Vorschulalter, erlernt das Kind den sicheren Umgang mit komplexeren Emotionen wie Neid und Scham, sowie soziale Kompetenzen im Umgang mit anderen. Kurz und prägnant: Das Kind lernt sich selbst kennen.

Ein Kind, das emotional vernachlässigt ist, erlernt diese wichtigen sozialen Kompetenzen nicht. Doch die möglichen Auswirkungen können noch gravierender sein:

 

Vgl. auch: Entwicklungstrauma – Wenn Kinder ein negatives Selbstbild prägt

Unter einem Entwicklungstrauma leiden viele. Die meisten Erwachsenen wissen jedoch nichts davon, haben aber mit den Folgen ihres kindlichen Entwicklungstraumas zu kämpfen.

Vgl. Die 5 Entwicklungsbereiche von Kindern (Überblick)

 

Emotionale Vernachlässigung schädigt das Kind

Ähnlich wie körperlicher Missbrauch kann auch emotionale Vernachlässigung schwere psychische Schäden im Kind hinterlassen. Es ist wichtig, klar zu unterscheiden: Kindesmissbrauch geschieht meistens mit einer klaren Motivation, dem betroffenen Kind zu schaden. Emotionale Vernachlässigung oder sogar eine emotionale Verwahrlosung des Kindes geschieht oft ungewollt (3).

In sehr vielen Fällen ist den betroffenen Eltern nicht bewusst, dass ihr Kind unter emotionaler Vernachlässigung leidet! Oder es ist ihnen bewusst, aber sie fühlen sich außerstande, etwas zu ändern.

Wie schwer die Folgen sind, hängt auch von der Sensibilität des Kindes ab: Hochsensible Kinder leiden in noch stärkerem Maße unter einem Mangel an emotionaler Zuwendung (4).

Gründe für emotionale Vernachlässigung bei Kindern

Aus welchen Gründen werden Kinder emotional vernachlässigt? Die Ursachen sind vielfältig und oft tragisch. Meist kommen in der betroffenen Familie mehrere ungünstige Faktoren zusammen.

Die häufigsten Gründe für emotionale Vernachlässigung bei Kindern sind:

  • Zu hohes Arbeitspensum. In vielen bedürftigen Familien arbeiten beide Elternteile, oft in jeweils zwei Jobs, weil die steigenden Lebenshaltungskosten sie dazu zwingen. So kommen sie wenigstens halbwegs über die Runden. Abends sind sie müde und zu erschöpft, um die Sorgen ihres Kindes wahrzunehmen.

  • Akute oder längere Krisen. Wenn ein oder beide Elternteile den Job verlieren, das Geld nicht ausreicht, die Eltern sich scheiden lassen - dann kommen die finanziellen Probleme. Die Eltern sind mit der Situation überfordert, mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

  • Alleinerziehende Elternteile. Alleine Beruf, Kind, Haushalt und die Lebenshaltungskosten zu stemmen, ist ein täglicher Kraftakt, der zermürbt und ermüdet. Hinzu kommt, dass Alleinerziehende ein hohes Armutsrisiko haben – was weiteren Druck ausübt. Oft kümmert sich nur ein Elternteil um das Kind und ist die einzige emotionale „Ansprechperson“.

  • Die Eltern hatten als Kinder selbst emotionale Defizite. Sie imitieren als Erwachsene die unreflektierte Beziehung zu ihren eigenen Eltern.

  • Als Kind wurden sie selbst emotional vernachlässigt. Auch ihre Eltern haben die Welt nie durch die Augen eines Kindes gesehen. Deshalb fällt es ihnen schwer, die emotionale „Sprache ihres eigenen Kindes zu sprechen und auf die Probleme des Kindes einzugehen.

  • Ein Elternteil oder beide sind depressiv, leiden an anderen psychischen Problemen oder Suchterkrankungen. Ihre Gedanken kreisen um ihre eigene Krankheit oder die Befriedigung der Suchtbedürfnisse und lassen wenig Platz für das Kind. Auch wenn sie wissen, dass sie etwas ändern müssen - sie schaffen es nicht. So kommt zur emotionalen Vernachlässigung oft noch eine weitere ungünstige Komponente hinzu: Dem Kind wird zu viel Verantwortung aufgebürdet.

 

Das Resultat: Ein ständig erhöhtes Stresslevel im Kind

Emotional vernachlässigte Kinder machen immer wieder negative und unsichere Bindungserfahrungen. Sie leben mit einem erheblichen Mangel an angemessener sozialer Sicherheit. Sie fühlen sich zuhause weder sicher noch geborgen.

Das erzeugt ständig psychischen Stress: Im Gehirn werden dauerhaft ähnliche Schaltkreise aktiviert wie bei Panikzuständen oder körperlichem Schmerz.

Hinzu kommt: Bei vielen Kindern halten die negativen Erfahrungen über einen längeren Zeitraum an. Ihr „Stresslevel“, der Cortisol-Spiegel, ist oft dauerhaft erhöht – und bleibt so - bis ins Erwachsenenalter hinein.

Diese Kinder haben ein sehr hohes Risiko, an Depressionen oder anderen Angstproblemen und Verhaltensstörungen zu erkranken.

 

Emotionale Vernachlässigung und die Folgen im Erwachsenenalter:

Alle Erfahrungen vor dem dritten Lebensjahr werden vom unbewussten Gedächtnis gespeichert. Viele Erlebnisse ab dem dritten Lebensjahr bleiben zwar im Gedächtnis, werden aber häufig vom Kind aus Selbstschutz verdrängt oder uminterpretiert. In vielen Fällen entschuldigt das Kind seine Eltern vor sich und anderen. Es weist sich selbst die Schuld zu (5).

Emotionale Vernachlässigung braucht immer noch viel Aufklärungsarbeit. Viele betroffene Kinder leiden als Erwachsene an den Folgen der emotionalen Vernachlässigung. Selbst wenn es sich nur diffus und scheinbar zusammenhanglos äußert - das Unterbewusste vergisst nichts.

Viele soziale und psychische Probleme sind auf emotionale Vernachlässigung in der Kindheit zurückzuführen. In vielen Fällen ist dem späteren Erwachsenen selbst nicht bewusst.

Emotionale Vernachlässigung brennt sich tief ein und beeinflusst das spätere Denken und Verhalten des Menschen: Andauernde Bindungsdefizite und emotionale Vernachlässigung in der Kindheit können die Basis für psychische Erkrankungen beim Erwachsenen sein (6).

Mögliche Folgen von emotionaler Vernachlässigung im Erwachsenenalter:

  • Sich nicht auf andere verlassen wollen, Angebote auf Unterstützung ablehnen.

  • Die eigenen Stärken oder Schwächen, Wünsche und Abneigungen nicht kennen.

  • Bei sich selbst der unbarmherzigste und stärkste Kritiker sein.

  • Sich für die eigenen Bedürfnisse schuldig fühlen, sich dafür schämen.

  • Sich taub fühlen, wie abgeschnitten von den eigenen Gefühlen.

  • Schwierigkeiten, Gefühle und Emotionen auszudrücken und zu kontrollieren.

  • Sich schnell überfordert fühlen und aufgeben.

  • Ein geringes Selbstbewusstsein haben, eigene Bedürfnisse zu äußern und zu realisieren.

  • Schlecht mit Zurückweisung umgehen können.

  • Tief verwurzelter Glaube, dass etwas mit sich selbst nicht stimmt, man unter Störungen leidet. Ohne genau zu wissen, was es ist.

  • Unsichere Beziehungen eingehen, so unsicher wie die Beziehung als Kind zu den Bezugspersonen war.

  • Entwicklung eines Suchtproblems.

 Auch wenn nicht alle Symptome auftreten müssen, sind sie doch eine wichtige Richtlinie zum Erkennen von emotionaler Vernachlässigung.

 

Wie können wir Kindern helfen, die unter emotionaler Vernachlässigung leiden?

Eine negative Kindheit prägt das ganze Leben. Sie kann ebenso schaden wie körperlicher Missbrauch, ist aber oft nach außen hin unsichtbar. Für Außenstehende ist es deshalb tendenziell schwer, emotional vernachlässigte Kinder zu erkennen – betroffene Kinder entwickeln sich meist äußerlich unauffällig und normal erscheinend.

Ein emotional vernachlässigtes Kind boxt sich vielleicht auch ohne emotionalen Zuspruch der Eltern im Rücken durch die Schule. Erst im jungen Erwachsenenalter entwickelt es möglicherweise Aggressionsprobleme und bricht die Schule frühzeitig ab.

Ohne näheren Kontakt zum Kind ist es deshalb meistens schwer, einzuschätzen: Ist ein Kind schüchtern oder ist es emotional verwahrlost? Erst bei näherer Betrachtung ist es möglich, zu erkennen: Liegen die schlechten Schulnoten vielleicht daran, dass das Kind sich zu wenig zutraut? Weil die Eltern ihm keinen Zuspruch geben? Vielleicht knüpft es aus diesem Grund kaum oder nur zögerlich Freundschaften mit anderen Kindern?

 

Zuhören hilft

Genau hinsehen und das Vermitteln von Geborgenheit ist sehr wichtig für eine gesunde kindliche Entwicklung. Deshalb legen wir in unseren Projekten gegen Kinderarmut in Deutschland großen Wert darauf, den Kindern nicht nur gesunde Mahlzeiten, sondern auch das Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu vermitteln.

Alle BetreuerInnen, mit denen wir zusammenarbeiten, haben immer ein offenes Ohr und nehmen sich die Zeit, auf jedes Kind individuell einzugehen.

Spätestens ab der zweiten Klasse vertrauen die Kleinen unseren Frühstücksklub-HelferInnen ihre Sorgen und Nöte an – die selbstverständlich vertrauensvoll behandelt werden. Aufmerksam zuhören tut gut.


Quellen:

1) Online-Handbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik 2) Goodreads 3) Psychology Today 4) Highly Sensitive Refuge LLC 5) vitos:blog 6) Ärzteblatt

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Ariane Faralis – Redaktion Deutsche Lebensbrücke

Ariane ist studierte Soziologin & Heilpraktikerin für Psychotherapie und verstärkte bis 2022 die Redaktion der Deutschen Lebensbrücke mit fundierten Fachtexten. Arianes Motto: “Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“ (Erich Kästner)

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