Kinderarmut Statistiken – Mediale Armutsberichte in der Kritik

Wer die Statistiken über Kinderarmut in Deutschland verfolgt, dem fällt auf, dass die Zahlen von armutsgefährdeten bzw. benachteiligten Kindern hierzulande stagnieren. Und das obwohl auf politischer Seite bislang wenig Effektives getan wurde. Wie kann das sein? Oder liegt hier vielleicht ein Statistik-Fehler vor?

Kinderarmut Statistiken in der Kritik

Zahlen über Kinderarmut scheinen zu stagnieren

Jedes Jahr lesen wir die gleichen Zahlen über Kinderarmut. Wie kann das sein? Und warum bessert sich nichts?

 

Seit Jahren ist jedes 5. Kind in Deutschland arm

Erst am 13. März 2022 erschien ein Artikel des Redaktionsnetzwerks Deutschland mit dem bekannten Titel: „Weiterhin jedes fünfte Kind in Deutschland armutsgefährdet“.

Auffällig ist die Wortwahl vieler Armutsberichterstattungen renommierter Medien (ZDF, FAZ, Welt u.v.m), die verdächtig gleich lauten und wie abgeschrieben wirken.

Das Team von Unstatistik hat diese Meldungen als Unstatistik des Monats März 22 gewählt. Mit der „Unstatistik des Monats“ nehmen die Wissenschaftler Gerd Gigerenzer ( Psychologe in Berlin), Walter Krämer (Statistiker in Dortmund), Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer publizierte Statistiken und Berichte unter die Lupe.

Das Resultat bestätigt die Ergebnisse, die seit vielen Jahren von Soziologen, Psychologen und anderen Experten verschiedenster Fachrichtungen moniert werden:

Die Armutsquote wird zu einseitig nach materiellen Faktoren berechnet und geht an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vorbei.

Entsprechende Statistiken zur Kinderarmut in Deutschland verzerren daher das Bild: die Armut unter Familien mit Kindern stagniert nicht, sondern vergrößert sich. Vgl. auch Was ist Armut? (Philosophie) – Und warum ist sie ein Problem?

 

Unstatistik des Monats Mai 2022

Zu wenig Faktoren berücksichtigt

Sie ist aus verschiedenen Gründen unsere Unstatistik des Monats März“, gaben die Spezialisten auf ihrer Website bekannt (2). Starke Kritik an den Statistiken betrifft die Maßeinheit von Armut:

Kinderarmut werde allein durch das Einkommen der Familie bestimmt, andere relevante Faktoren werden dagegen überhaupt nicht erwähnt. Schließlich ist auch das Konsumverhalten der Erziehungspersonen oder die sozialen Teilhabe-Chancen ausschlaggebend für die Kindesentwicklung.

Zudem wird das Schema der sogenannten Äquivalenskalen angezweifelt: es gibt verschiedene, sodass einmal eine Familie arm erscheint, ein anderes Mal nicht.

Vgl. auch: Fakten zu Kinderarmut 2023 – Überblick & zentrale Erkenntnisse

Vgl. auch: Was ist Erziehung? – Bedeutung, Ziele & Aufgaben

 

Kinderarmut-Statistiken ohne Mehrwert

Viel stärker stößt es den Autoren der Unstatistik jedoch auf, dass die mediale Armutsberichterstattung seit Jahren keinen Mehrwert liefert, wenn jedes Jahr dieselben Meldungen in fast identischer Wortwahl Verbreitung finden.

Und diese Meldungen werden weiterhin so undifferenziert und lückenhaft bleiben, wenn weiterhin falsche Armutsmessungen angesetzt werden: denn nach dieser Rechnung wird die Zahl der sozial benachteiligter Kinder immer auf dem gleichen Niveau verharren, obwohl sie in der Realität längst um ein Vielfaches angewachsen ist.

Kinder gelten als armutsgefährdet beziehungsweise arm (diese beiden Begriffe werden oft synonym verwendet), wenn ihre Eltern arm sind, und die sind arm, wenn das Familieneinkommen 60 Prozent des nationalen Durchschnitts unterschreitet.

Bei einer gegebenen Einkommensverteilung (und die ändert sich nur langsam) ist der so berechnete Prozentsatz armer Menschen immer gleich, er liegt derzeit bei 16 Prozent für alle und bei 20 Prozent für Kinder. Letztere gehören überproportional oft „armen“ Familien an.

Aber diese Prozentsätze bleiben auch bei wachsendem Einkommen immer gleich. Das heißt, wenn sich das reale Einkommen aller Familien verdoppelt oder verdreifacht, gelten nach der aktuellen Definition weiterhin 20 Prozent aller Kinder als arm.“ (2)

 

Gesellschaftliche Teilhabe als verlässlicher Indikator für Armut

Immer wieder wird die Quote an armutsgefährdeten bzw. armen Menschen oder auch Kindern an einem Prozentsatz festgemacht, der sich am Durchschnittseinkommen orientieren soll. Das Konstrukt sei aber wissenschaftlich inkorrekt und nicht haltbar.

Die Autoren verweisen auf den Wirtschaftsnobelpreisträger A.K. Sen, der dafür plädiert, Armut an den Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe zu messen. Diese Dimension gehe nämlich weit über das materielle Existenzminimum von Kindern und Erwachsenen hinaus und hat wenig mit einem Durchschnittseinkommen zu tun:

„Der Punkt ist: ob jemand arm ist oder nicht, hängt alleine davon ab, was jemand selber kann und darf, nicht was andere können oder dürfen. (…)

Beim Anbinden an den gesellschaftlichen Durchschnitt haben wir dagegen die perverse Situation, dass bei einem Umzug von Boris Becker oder Jürgen Klopp von England zurück nach Deutschland die Armut in Deutschland steigen würde.

Der Durchschnitt der Einkommen würde wachsen (mal unterstellt, dass Boris Beckers aktuelles Einkommen immer noch den nationalen Durchschnitt übersteigt), und damit auch der Anteil derjenigen, die weniger als 60 Prozent dieses Durchschnitts verdienen.

Dieser Perversion versucht man zwar, durch Verwendung des Medians statt des arithmetischen Mittels die Spitze zu nehmen (…), aber es bleibt die völlig sachwidrige Option, dass die Armut durch das reicher werden gewisser Menschen zunimmt und dass man umgekehrt die „Armut“ dadurch senken kann, nicht indem man den Armen etwas gibt, sondern indem man den Reichen etwas nimmt. (2)

vgl. Gefühlte Armut – mittellos, diskriminiert & stigmatisiert

 

Kinder mit Migrationshintergrund am meisten von Armut betroffen

Irritierend sind auch Aussagen von Fachleuten, die betonen, dass nicht mehr deutsche Kinder in Armut leben, sondern Kinder mit Migrationshintergrund. Migrationshintergrund umfasst allerdings eine große Gruppe von Menschen, auch diejenigen, die bereits seit mehreren Generationen fest in Deutschland etabliert sind und sich selbst als Deutsche verstehen.

vgl. auch Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund – arm & gefährdet

So gab zum Beispiel der Wirtschaftswissenschaftler Steffen Roth gegenüber dem Deutschlandfunk an (4):

„Es sind mehr arme Kinder da, die sind allerdings auch neu in Deutschland gewesen in diesem Statistikzeitraum. Das heißt, wenn man die Gruppe der Kinder, die in diesem armutsgefährdeten Bereich leben, auseinandernimmt, dann konnte man feststellen, Kinder mit einem deutschsprachigen Hintergrund hatten sogar eine Verbesserung, hatten also ein geringeres Armutsrisiko aufzuweisen.

Kinder von Migranten, wo die Kinder aber selbst hier geboren sind, dort gab es keine Veränderung. Das heißt, der Anstieg lag allein bei Jugendlichen und Kindern, die in den letzten Jahren nach Deutschland zugewandert sind (…)

(…) wenn man davon ausgeht, dass die neu zugewanderten Kinder im großen Maßstab aus Flüchtlingsfamilien stammen werden, dann muss man im Gegenteil sogar annehmen, dass es diesen Kindern, auch wenn sie heute im Grundsicherungssystem Unterstützung brauchen, im Regelfall heute besser geht als vor oder während ihrer Flucht.“

 

Fragliche Definitionen & Aussagen

Die Meinung Dr. Roths ist leider exemplarisch für die verzerrte Sicht auf soziale Ungleichheiten in Deutschland: eigentlich würden neu zugewanderte, arme Kinder die Zahlen verfälschen.

Doch ist allein diese Argumentation schon fraglich:

  • Oft werden vereinfachte Zahlen genutzt, um das Armutsrisiko von Menschen zu messen. Diese Zahlen gehen allerdings an der Realität vorbei. Denn selbst, wenn ein Mensch offiziell über dem Durchschnittseinkommen liegt, kann er aufgrund von Kosten durch Krankheit, Schulden etc. arm sein, wird aber nicht in die Statistik miteinberechnet.

  • Selbst wenn es „deutschen“ Kindern ein wenig besser zu gehen scheint – Materielles ist der falsche Maßstab für ein menschenwürdiges Leben in Deutschland.

  • Und wie zulässig ist die Differenzierung zwischen deutschen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund wirklich?

  • Gleichzeitig wird so suggeriert, Kinderarmut wäre dann fatal, wenn sie deutsche Kinder betrifft. Solche Argumentationsstränge sind ethisch äußerst bedenklich und alarmierend. Arme Kinder aus Migrationsfamilien haben es in Deutschland nicht automatisch besser als in ihrem Heimatland. Und selbst wenn: ein menschenunwürdiges Leben bleibt auch in Deutschland ein menschenunwürdiges Leben.

 

Fazit: Kinderarmut Statistiken

Viele Experten sind der Meinung, dass Kinderarmut in Deutschland gerne banalisiert und relativiert werde. Erst 2021 hat der Deutsche Paritätische Wohlstandsverband Gesamtverband e.V. wieder einen Bericht über Kinderarmut in Deutschland herausgegeben, in dem es heißt (6):

„Die praktischen Fortschritte stehen dazu in einem krassen Gegensatz. Schon 1989 sprach der Sozialwissenschaftler Richard Hauser von einer „Infantilisierung“ der Armut. Es gab zwar politische Bemühungen, diesen Trend zu durchbrechen und Kinderarmut, die immer auch Familienarmut bedeutet, zu reduzieren, nachhaltige Erfolge blieben aber bis dato aus.

Für viel zu viele Kinder und Jugendliche endet, so ließe sich sarkastisch formulieren, die Kinderarmut nicht durch die Überwindung von Armut, sondern durch die Volljährigkeit.“

Die Ergebnisse sind außerdem erschreckend und aufrüttelnd:


1) Kinderarmut nimmt nicht ab

Die Anzahl von Kindern & Jugendlichen mit Grundsicherung nahm in den letzten Jahren ab. Das wird vielfach als Erfolg dargestellt und behauptet, daran lasse sich erkennen, dass Kinderarmut hierzulande abnehme. Hierbei handelt es sich aber um einen Kategorie-Fehler, einer falsch konstruierten Kausalbeziehung.

Denn sinkende Grundsicherungszahlen bedeuten nicht automatisch, dass es den Betroffenen jetzt besser geht: vielmehr wird der Missstand deutlich, dass die Einkommensarmut steigt, obwohl weniger Kinder und Jugendliche HartzIV-Leistungen erhalten.

Vgl. auch Kinderarmut erkennen – subtile Anzeichen


2) Grundsicherung schützt nicht vor Armut

Selbst wenn Familien mit Kindern eine Grundsicherung erhalten, ist das längst kein ausreichender Schutz vor Armut.

Nach Berechnungen des Paritätischen fehlt einem Paar mit 2 Kindern im Grundsicherungsbezug mindestens 214 Euro monatlich, um die statistische Armutsschwelle zu überwinden.


3) Kinder sind in unserem Sozialstaat ein Armutsfaktor

Besonders fatal: nach wie vor müssen Alleinerziehende und kinderreiche Familien das Nachsehen haben, weil sie am häufigsten von Armut betroffen sind und vielen strukturellen Ungleichheiten ausgesetzt sind.

In Zahlen verdeutlicht: Im Jahr 2019 waren 43 % der Alleinerziehenden einkommensarm und weiterhin auf Sozialhilfe angewiesen, trotz Berufstätigkeit.


4) Familienpolitik in Deutschland verschärft Ungleichheiten

Immer wieder die ungleiche Armutsverteilung zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands thematisiert. In den neuen Bundesländern sollen es Kinder ein wenig besser haben, dagegen scheinen die Probleme in Westdeutschland (Bremen, Hessen, Niedersachsen, NRW) zu steigen.

Ob diese Differenzierung so stimmt, bleibt aber fraglich, da Armut auch gerne in „reichen“ Bundesländern wie Bayern kleingeredet wird. Grundsätzlich ist die Familienpolitik in Deutschland nicht kinder- und familienfreundlich gestaltet.

Kinderhilfen und Verbände fordern daher zu Recht, die finanzielle Unterstützung von Kindern & Jugendlichen durch die Einführung einer Kindergrundsicherung.


Quellen:

1) Portal der Kinder- und Jugendhilfe: Unstatistik – Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm – und das wird so bleiben
2) Walter Krämer: Unstatistik des Monats: Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm – und das wird so bleiben
3) WSI Verteilungsmonitor: Armutsquoten von Kindern und Älteren in Deutschland (2005 – 2020)
4) Birgid Becker: Kinderarmut – die Gefahren falsch gelesener Statistiken
5) Bundesministerium für Arbeit und Soziales: ARB – A01 Armutsrisikoquote
6) Paritätische Forschungsstelle: Expertise Kinderarmut 2021

Tamara Niebler

Tamara ist studierte Philosophin (Mag. phil.) & freie Journalistin in München. Sie unterstützt unsere Redaktion mit jeder Menge Fachwissen und kritischen Denkanstößen. Tamaras Motto: „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka)

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