30 Jahre Russlandhilfe
Die Verletzlichen der Gesellschaft und vor allem die Kinder brauchen weiterhin unsere Hilfe.
30 Jahre humanitäre Hilfe in Russland
Wir haben viel geschafft - und es gibt noch viel zu tun. Ein Rückblick und ein Ausblick
Wie die Zeit vergeht! Wir feiern dieses Jahr ein rundes Jubiläum: 30 Jahre Russlandhilfe.
Alles begann 1991, nur zwei Jahre nach unserer Gründung. Der damalige Oberbürgermeister von St. Petersburg, Anatoli Sobtschak, bat uns um Hilfe. Er wusste, dass der Ehrenpräsident der Deutschen Lebensbrücke, Eduard Prinz von Anhalt, ein direkter Nachfahre von Zarin Katharina der Großen ist.
Unser Video zum 30-jährigen Jubiläum
Sobtschak bat um Hilfe für die prekäre Situation vor Ort. Er lud Prinz Eduard anlässlich der Umbenennung der Stadt von Leningrad in St. Petersburg nach Russland ein. So wurden wir auf die schrecklichen Zustände in Russland aufmerksam.
Die Situation in den 1990er Jahren
Es fehlte wirklich an allem
Was uns in St. Petersburg erwartete, war ebenso erschütternd wie wegweisend: Im „Kinderkrankenhaus Nr. 1“ führten die wenigen behandelnden Ärzte und Schwestern einen verzweifelten Kampf um das Leben schwer kranker Kinder. Die kleinen Patient*innen kamen aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion, aber besonders aus Tschernobyl.
Das Kinderkrankenhaus Nr. 1 befindet sich am südlichen Stadtrand von St. Petersburg. Von außen sah es damals wie eine unbewohnte Bauruine aus. Im Keller hausten Ratten und Mäuse. Katzen hatten die Treppenhäuser bevölkert. Überall roch es nach Urin.
Die behandelnden Ärzt*innen hatten kaum Medikamente zur Verfügung. Es gab nicht einmal ausreichend Pflaster. 1991 schickten wir die ersten LKWs mit Hilfsmitteln nach Russland.
Das große Leid der Straßenkinder
Prekäre Zustände gab es nicht nur in den Krankenhäusern: In den frühen 90er Jahren verließen ca. 40.000 Mädchen und Jungen ihr liebloses oder gewalttätiges Zuhause. Sie vegetierten in Abbruchhäusern, U-Bahn-Schächten oder in der Kanalisation.
Für die Kinder und Jugendlichen ging es täglich ums pure Überleben. Sie bettelten, klauten Lebensmittel. Sie hatten oft tagelang nichts zu essen. Sie kämpften mit jedem Sonnenuntergang aufs Neue darum, die Nacht zu überstehen. Viele stahlen in ihrer Not Lebensmittel, schnüffelten Klebstoff.
In den ersten Jahren unserer Russlandhilfe leisteten wir zusätzlich psychologischen und rechtlichen Beistand. Schrecklich, aber wahr: Ein Kind, das in seiner Not Lebensmittel klaute und erwischt wurde, wurde mit bis zu drei Jahren Jugendhaft bestraft.
Damals begann auch unsere Zusammenarbeit mit dem engagierten Kinderarzt und Soziologen Dr. Sereda. Wir kamen durch die frühere Sozialbürgermeisterin mit ihm in Kontakt.
Zu dieser Zeit leitete Dr. Sereda noch ein Kinderheim. Nachts fuhr er mit einem kleinen Bus unermüdlich, nächtelang, zu U-Bahnstationen und anderen Schlupfwinkeln. Er betreute die vielen Straßenkinder medizinisch. Er brachte den Kindern von Cafés gespendeten Tee, Brot und Gebäck.
Wir finanzierten damals in Zusammenarbeit mit Cafés und Restaurants Essensmarken und verteilten sie. Diese „Gutscheine“ konnten Kinder wie auch alte Menschen gegen eine warme Mahlzeit eintauschen.
Familienpatenschaften
Die Familienpatenschaften waren ein weiteres wichtiges Projekt. In den 90er Jahren unterstützten wir knapp 40 Familien in Russland. Viele von ihnen haben wir jahrelang begleitet. Auch heute noch sind wir in Kontakt mit ihnen. Die Printmedien berichteten z.B. 1991 über das schwere Schicksal von Lujba, einer alleinerziehenden Mutter mit Zwillingen.
Die großartige Unterstützung von Spendern, Promis und Medien
Die vielen traurigen Kinderschicksale ließen niemand kalt: Innerhalb kürzester Zeit fanden die erschütternden Bilder ihren Weg in die (Print-)Medien. Die Bild am Sonntag, tz, Neue Post, Welt am Sonntag, Rundschau und viele mehr unterstützten uns. Die daraus resultierende Spendenbereitschaft berührte uns zutiefst. Zudem wurden Prominente auf die Missstände in Russland aufmerksam. Die öffentliche Anteilnahme war überwältigend.
All die wunderbaren Aktionen engagierter Promis zu beschreiben und ihre wundervollen Zitate zu listen, würde den Rahmen dieses Texts sprengen. Gerne können Sie auf der Website der Deutschen Lebensbrücke stöbern: Prominente helfen Kindern.
An dieser Stelle möchten wir aber ein paar schöne Geschichten und Momente teilen.
Beispielsweise reiste Schauspielerin Marie-Luise Marjan („Lindenstraße) wiederholt mit uns nach St. Petersburg. Ihr war klar: „Wir müssen von unserem Wohlstand abgeben.“
Besondere Medienwirksamkeit erreichte ihre Unterstützung in der TV-Show Wetten Dass: Sie verlor bei Thomas Gottschalk ihre Wette. Marie-Luise Marjan löste ihren Wetteinsatz gerne ein: In Anlehnung an das traditionelle Essen der Familie Beimer verkaufte sie im Bonner Bundestag zugunsten unserer Russlandhilfe Maultaschen. Rita Süssmuth und anderen Politiker*innen hat es geschmeckt!
US-Schauspieler Michael Douglas („Wall Street“) hat selbst russische Wurzeln. Stellvertretend für eine Reise nach Russland besuchte er zusammen mit uns die Leukämiestation eines Kölner Kinderkrankenhauses. Wir sind dankbar für sein persönliches Engagement und für seine Spende für unsere Russlandhilfe.
Die Promis wollten helfen – auch direkt vor Ort
Marie-Luise Marjan war längst nicht die einzige prominente Person, die sich selbst ein Bild von der Situation machen wollte. Kurze Zeit später flog Schlagerstar Patrick Lindner zum ersten Mal mit uns nach St. Petersburg.
Wir bezahlten damals Sozialarbeiter, die nachts mit Kleinbussen durch die Bezirke fuhren. Sie verteilten heiße Getränke und Kleidung an die Kinder und Jugendlichen.
Patrick Lindner begleitete einen Sozialarbeiter. Er verteilte Lebensmittel an die Straßenkinder. Bis dato war ihm nicht klar, dass es solches Elend gibt. Das Leid der Kinder schockierte ihn zutiefst.
Auf dem Rückflug nach Deutschland war ihm klar: „Hier muss etwas getan werden. Ich werde meine ganze Kraft verwenden und diese Kinder unterstützen.“
Auch Schauspieler Peter Weck („Ich heirate eine Familie“) wollte vor Ort helfen. Beispielsweise brachte er den kleinen Kinderkrebs-Patient*innen im Krankenhaus Nr. 1 persönlich tonnenweise Obst. Die Dankbarkeit berührte Peter Weck zutiefst: Die Kinder konnten kaum glauben, dass die frischen Früchte tatsächlich für sie waren.
Michael Lesch hat selbst eine Krebskrankheit überwunden. Er weiß, wie sehr die Kinder leiden. Der Schauspieler („Freunde fürs Leben“) ist langjähriger Unterstützer unserer Russlandhilfe. Er war entsetzt: „Es ist schockierend, dass Kinder dort sterben, nicht weil der Krebs sie besiegt, sondern weil es am Nötigsten fehlt.
Eine CD für die Kinder
Ein weiterer, im wahrsten Sinne des Wortes, prominenter Höhepunkt war die Veröffentlichung unserer Benefiz-CD 2001: Unter der Moderation von Nina Ruge lasen bekannte Persönlichkeiten russische Lyrik in deutscher Sprache. Alle 14 Gedichte hatten einen Bezug zu St. Petersburg.
Unter den prominenten Sprecher*innen waren Moderator Johannes B. Kerner, Schauspielerin Christine Neubauer, Moderatorin Birgit Schrowange, Schauspieler Prof. Peter Weck, Schauspielerin Christiane Hörbiger, und Sängerin Dunja Rajter.
Alle, die mitgemacht hatten, waren begeistert von dem Ergebnis. Der Erlös war dringend benötigt. Die Versorgung vor Ort blieb mehr als mangelhaft. Die Kinder kannten es nicht, sich satt zu essen. Der Geldmangel war weiterhin spürbar. Es fehlten Medikamente, Geräte, Instrumente, selbst Spielzeug für die Kinder in der Klinik. Der Standard war weit unter deutschen Standards.
Unsere Russlandhilfe im Laufe der Jahrzehnte
Vieles hat sich verändert
Wir begannen unsere Unterstützung während des massiven (politischen) Umbruchs des Landes. Damals war alles im Umschwung. Es gab einfach nichts zu kaufen. Die Armut war unvorstellbar.
In den letzten Jahrzehnten hat sich in Russland verändert. Ab den 2000er Jahren ging es wirtschaftlich etwas bergauf. Das bedeutete: Wir mussten keine LKWs mehr nach Russland schicken. Wir konnten nun vor Ort für die Menschen einkaufen. Die Lebensmittel und Medikamente bringen wir seitdem direkt zu den Einrichtungen.
Vieles schien besser zu werden. Eine Zeitlang wurden in den Krankenhäusern sogar westliche Medikamente verabreicht. Seit 2001 ging die Wirtschaft nach einem zeitweiligen Aufschwung wieder abwärts.
Mittlerweile sind viele positive Entwicklungen rückläufig. Viele Probleme sind jetzt anders gelagert. Vielleicht sind sie weniger sichtbar. Aber sie sind nach wie vor da.
Die Straßenkinder von St. Petersburg heute
Damals ging es für die Straßenkinder um Nahrung, ums pure Überleben. Sie schnüffelten Klebstoff und klauten Lebensmittel. Heute hat sich die Problematik verlagert. Das Hungerproblem ist nicht mehr so groß wie früher. An seine Stelle sind harte Drogen und Alkohol getreten.
Viele der Kinder leiden an HIV, Tuberkulose, Hepatitis und anderen Krankheiten. Drogen kosten. Die Beschaffungskriminalität ist hoch. Wie viele Kinder heute (die meiste Zeit des Tages) auf der Straße leben, ist nicht bekannt.
Überspitzt kann man sagen: Wo keine Zahl, da kein Problem.
Unsere Projekte helfen, die Straßenkinder von Russland zu schützen. Nicht nur die klirrende Winterkälte von weniger als -20°C ist eine Bedrohung für sie. Auch Menschenhandel, Organhandel, Prostitution und brutale Gewalt sind tägliche Gefahren für die Kinder.
Wir unterstützen beispielsweise den Raduga-Klub und das K9C seit 1998. Die Freizeitstätten sind für viele betroffene Kinder der einzige Zufluchtsort. Hier können die Kinder spielen und Kurse besuchen. Sie werden psychologisch betreut und können bei Tee und Keksen über ihre Sorgen berichten.
Die Zustände im Krankenhaus Nr. 1 sind wieder schlimmer geworden
Leider gilt in Russland wieder verstärkt: Nur wer es bezahlen kann, bekommt die guten Medikamente. Viele Eltern von krebskranken Kindern haben aber keine gut situierten Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte. Sie können sich kein Geld von ihnen leihen. Wieder sterben Kinder an den Nebenwirkungen, nicht an der Krankheit.
Heute gibt es alle Medikamente direkt in Russland zu kaufen. Deshalb finanzieren wir die Medikamente für die Krebskinder vor Ort. Das ist heute genauso wichtig wie vor 30 Jahren.
Nur so können auch die Kinder mit hochwertigen Krebsmittel behandelt werden, deren Eltern keine reichen Menschen sind. Denn die Güte des Medikaments ist linear mit der Überlebensrate verbunden.
Wir finanzieren dringend benötigte medizinische Geräte. Wir sorgen auch dafür, dass die kleinen Kinderkrebspatient*innen regelmäßig frisches Obst und Gemüse zum Essen bekommen.
Die Kinderleukämiestation während Covid-19
Gemäß russischer Richtlinien bleibt bei Kindern im Krankenhaus immer eine Person mit im Zimmer. Aufgaben, die in Deutschland einer Krankenschwester oder einem Pflegers vorbehalten sind, übernehmen in Russland die Angehörigen. Vor Corona durften die Betreuer kommen und gehen, wie sie wollten. Beispielsweise blieb die Mutter wochentags beim Kind. Am Wochenende sprang die Oma ein. So war die Mutter zeitweise entlastet. Seit Covid-19 wird in der Klinik verstärkt auf Sicherheit geachtet: Die Betreuer*innen dürfen sich nur noch im 2-Monate-Rhythmus abwechseln.
Niemand darf die Station verlassen
Für die kleinen Patient*innen und ihre Betreuer*innen heißt das: Sie dürfen die Station nicht verlassen, geschweige denn für einen Spaziergang in den Klinikpark gehen. Fremde dürfen das Krankenhaus nicht betreten.
Drei bis vier Kinder und ihre Pflegepersonen sind in kleinen Zimmern zusammengepfercht. Es wird zwar versucht, nach Geschlechtern zu trennen. Oft klappt es nicht.
Außerdem ist das Essen im Krankenhaus nicht genießbar. Die Kinder sind bereits geschwächt und appetitlos von der langen und beschwerlichen Chemotherapie. Sie bekommen das einseitige und wenig nahrhafte Essen kaum runter.
Manches ist im Laufe der Jahrzehnte besser geworden, anderes wird wieder schlimmer
Auch heute leben Katzen, Mäuse und Ratten in den Krankenhausgängen. Es riecht immer noch nach Katzenurin. Seit ca. 2013 geht es in Russland wirtschaftlich wieder eher bergab. 2018 erlitt die Regierung einen massiven wirtschaftlichen Fall.
Die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen. Frisches Obst und Gemüse sind Luxus.
In vielen Bereichen sind die Preise wie bei uns. Die Löhne sind aber nur ein Drittel bis die Hälfte von unseren. Auch die Nebenkosten z.B. für das Wohnen sind stark gestiegen.
Wieder sterben krebskranke Kinder an den Nebenwirkungen, nicht an der Krankheit. Ein Großteil der Eltern von krebskranken Kindern kann sich keine hochwertigen Medikamente leisten. Sie haben auch keine Familie, Freunde oder Bekannte, die sich leisten könnten, ihnen etwas zu leihen.
Rückblick und Ausblick
Wenn wir auf die letzten 30 Jahre zurückblicken, sind wir stolz und dankbar. Alleine durch Spenden haben wir über 200 Tonnen Nahrungsmittel, hochwertige Medikamente, Antibiotika, saubere Spritzen, Verbandsmaterial sowie medizinisch-technische Geräte im Gesamtwert von fast 1,5 Millionen Euro nach St. Petersburg bringen können.
Wir haben unzähligen verzweifelten russischen Eltern mit kranken Kindern geholfen.
Wir haben die Überlebensrate krebskranker Kinder dank dieser Maßnahmen extrem erhöhen können.
Wir unterstützen russische Ärzte (die zwischen 40 und 50 Prozent weniger verdienen als deutsche Ärzte!).
Wir haben vielen, vielen Straßenkindern und Sozialwaisen nicht nur das Überleben, sondern einen Weg in die Zukunft ermöglicht.
Wir konnten vieles bewegen, aber es gibt noch viel zu tun. Patrick Lindner sagte sehr schön: „Kein Kind der Welt soll weinen“.
Jedes Kind, dem wir helfen können, macht unsere Arbeit wertvoll.
Seit 2012 macht es die russische Regierung Hilfsorganisationen schwerer. Davon lassen wir uns nicht stoppen. Es gibt zwar heute in Russland an sich alles zu kaufen. Dennoch geht es vielen Menschen schlecht. Die Nebenkosten sind hoch, die Lebensmittelpreise steigen und steigen.
Verzweifelt, verstoßen – aber auch in Zukunft nicht vergessen: Die Kinder Russlands brauchen unsere Hilfe.
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