Überangepasstes Kind

Was ist ein überangepasstes Kind?

Definition überangepasstes Kind

Beim Wort ‚angepasst‘ denkt man bei Kindern gerne an gefügsam und „leicht zu haben“. Übermäßig angepasst klingt also nach superbrav. Wir assoziieren es mit einem lieben Kind.

Das wirkt auf den ersten Blick ziemlich positiv: Es gibt zuhause keine Machtkämpfe. Das Kind widerspricht nicht. Es rebelliert nicht. Es bringt vielleicht sogar selbstständig gute Schulleistungen. Es beschwert sich nicht.

Ist das der Traum aller Eltern? Nicht bei näherem Hinsehen. Ein sehr „braves“ Kind ist eben meistens gleichzeitig ein sehr angepasstes Kind: Es passt sich den elterlichen Meinungen, Einstellungen und Richtlinien übermäßig an.

Das kann mit einem Verlust der kindlichen Identität einhergehen.

Wichtig ist, zu betonen: Natürlich gibt es auch Kinder, die eher Harmonie als Machtkämpfe brauchen. Es gibt Kinder, die eher sanft und ruhig sind. Doch häufig ist überangepasstes Verhalten ein Alarmzeichen.

 

Welche Rolle spielen die Eltern?

Eltern beeinflussen ihre Kinder immens: Sie dienen als Vorbilder. Ihr eigenes Verhalten formt die Kinder. Wie sie mit den Kindern umgehen, prägt die kindliche Psyche.

Und: Eltern weisen ihren Kindern Rollen zu. Meist geschieht dies unbewusst.

Die Eltern drängen ihr Kind in eine Rolle im Familiengefüge. Beispielsweise erwarten sie vom älteren Kind mehr Vernunft. Während das jüngere Kind sich lautstark durchsetzen darf, muss das ältere Kind brav sein.

Eltern, die selbst alles perfekt machen wollen, haben zudem oft hohe Ansprüche an ihr Kind. Sie erwarten, dass ihr Kind sie erfüllt.

 

 Der Platz des Kindes in der Familie

Kinder haben einen starken angeborenen Drang nach sozialer und emotionaler Erwünschtheit.

So wie die Eltern dem Kind einen Platz zuweisen, so sucht sich auch das Kind seine Rolle in der Familie. Es macht alles, um den Eltern zu gefallen. Es will ihnen alles Recht machen.

Deshalb wählt das Kind unbewusst die sinnvollste freie Rolle im Familiengefüge. Es sucht sich die aus, die maximale Chancen auf Anerkennung verspricht.

Über diese Rolle versucht es, sich die elterliche Liebe und Zuneigung zu sichern.

 

Die Rolle von Schule und sozialem Umfeld

Die Schule ist sehr leistungsorientiert. Bereits für Kinder besteht extremer Leistungsdruck.

Der Schweizer Kinderarzt Remo Largo kritisiert, dass Kindern in der Schule ihre Freiheit und Individualität geraubt wird: Die Kinder sind ziemlich fremdbestimmt. Ihnen wird gesagt, was sie wann, wie und wie schnell tun sollen 1).

Schlechte Noten nehmen Kinder als Ablehnung wahr. Ihnen bleibt wenig Platz für persönliche Schwächen und individuelle Entwicklung.

Aus den fremdbestimmten Kindern werden Erwachsene, die wenig initiativ sind und sich scheuen, Verantwortung zu übernehmen.

Die Gleichförmigkeit im Kleidungsstil und Konsumgütern sorgt gerade bei Kindern mit wenig Selbstbewusstsein zum Wunsch nach extremer Anpassung, um dazuzugehören.

 

Deshalb ist ein überangepasstes Kind selten glücklich

 

Es übernimmt zu früh zu viel Verantwortung

Überangepasste Kinder sind in verschiedenen Situationen überfordert. Ihnen wird zu viel zugemutet. In vielen Familien kommt es sogar zu einer wahren Rollenumkehr: Das Kind übernimmt in starkem Maße Eltern-Funktionen.

Es darf zuhause nie unbeschwert im Mittelpunkt stehen.

Es muss früh erwachsen werden und erwachsen handeln.

Diese sogenannte Parentifizierung kann sich in unterschiedlichen Bereichen äußern 2).

Parentifizierung schadet der kindlichen Entwicklung massiv.

 

Es leistet zu wenig Selbstfürsorge

Ein überangepasstes Kind lernt von klein auf: Die Bedürfnisse anderer sind wichtig. Ich muss andere Menschen in den Vordergrund stellen. Was ich möchte, zählt nicht.

Die Folge: Für die eigene Individualität bleibt wenig Raum. Die Beziehung zwischen Bindung und Unabhängigkeit bleibt unausgewogen. Das Kind gibt mehr, als es sollte, um zuhause nicht auf Ablehnung zu stoßen.

Es lernt nicht, die eigene Grenzen zu schützen.

 

Es hat zu viele Aufgaben im Haushalt

Es ist durchaus sinnvoll, Kinder in den Haushalt mit einzubeziehen. Je nach Alter können sie kleinere oder größere Aufgaben übernehmen. Anders ist es, wenn ein Kind sich um den ganzen Haushalt kümmern muss.

In Deutschland lebt jedes vierte Kind mit einem psychisch kranken Elternteil. Nicht selten muss das Kind aufräumen, putzen und einkaufen, weil die Eltern ein Suchtproblem haben oder psychisch krank sind.

Viele müssen sich auch deshalb, oder weil die Eltern viel arbeiten, um Geschwisterkinder kümmern. Evtl. auch interessant für dich: Positive Fehlerkultur für Kinder

 

 Es wird zum Puffer zwischen den Eltern

Wenn Eltern sich trennen, ist es mit vielen Emotionen verbunden. Viele verhalten sich in der Trennungsphase und auch danach wenig verantwortungsvoll dem Kind gegenüber. Ob Trauer, Wut, Eifersucht oder Aggression: Oft wird das Kind zumindest zeitweise ungewollt zum Puffer zwischen beiden Elternteilen. Oft muss es für die Eltern lügen. Es muss ein oder beide Elternteile verteidigen oder sogar beschützen. Vgl. auch Wutanfälle bei Kleinkindern

 

 Es muss zu früh Geld verdienen

Besonders in wirtschaftlich schwachen Familien reicht das Geld hinten und vorne nicht. Anstatt unbeschwert zu spielen und sich auf die Schule zu konzentrieren, muss das Kind zum Haushaltsgeld beitragen.

 

 Das Kind spürt sich selbst nicht

Das Kind lernt schon früh, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu unterdrücken. Es erkennt und lernt nicht, wer es selbst ist.

Traurig dabei ist: Das angepasste Kind will sich (ursprünglich) nicht so verhalten. Aber es tut es aus Rücksicht auf die Eltern. Es sieht keinen anderen Ausweg.

Vielleicht weiß es, widersprechen bringt nichts. Auch wenn es den Eltern eigentlich gerne sagen möchte, dass die Situation zuhause unfair und überwältigend ist.

 

Ein überangepasstes Kind kann sich später wenig durchsetzen

Sich durchsetzen zu können, ist in unserer Gesellschaft sehr wichtig. Deshalb sollten Kinder es von Anfang an lernen.

Ein überangepasstes Kind wird vermutlich nett sein. Es wird aber auch wenig Durchsetzungsvermögen haben. Es wird wenig innere Stärke haben. Es kann sich im sozialen Umfeld nicht durchsetzen. Es wird vielleicht in der Schule gehänselt und das Ziel von Mobbing werden.

 

Ein überangepasstes Kind ist gefährdet, psychisch krank zu werden

Die Zahlen an Kindern, die depressiv sind, Schlafstörungen haben oder an Burnout leiden, steigt stetig. Bereits im Kindergartenalter beginnt der Stress und Druck. Wenn das Kind kein Ventil hat, keine Vertrauensperson, fühlt es sich allein und einsam. Es kann mit dem Druck nicht alleine umgehen.

 

Entwicklungstrauma – Wenn Kinder ein negatives Selbstbild prägt

Unter einem Entwicklungstrauma leiden viele. Die meisten Erwachsenen wissen jedoch nichts davon, haben aber mit den Folgen ihres kindlichen Entwicklungstraumas zu kämpfen.

 

Wie können Eltern einem unangepassten Kind helfen?

Unsicherheiten nehmen

Das Wichtigste ist, dem Kind Sicherheit zu geben. Jedes Kind möchte sich sicher und geliebt fühlen. Es möchte wissen, dass es willkommen ist. Einfach dafür, wer es ist. Wenn es Gesprächsbedarf hat, muss man mit ihm reden. Das Kind sollte sich angenommen und geliebt fühlen. Egal, was es macht, welche Einstellungen es hat.

 

 Eltern müssen alle Seiten ihres Kindes sehen und anerkennen

Manchmal fällt es Eltern schwer, alle Facetten ihres Kindes zu sehen. Einige projizieren ihre eigenen Wünsche auf das Kind. Andere sehen die schlechten Seiten des Partners in ihm.

Fälschlicherweise glauben viele Eltern, dass es ein nur braves Kind gibt. Doch auch ein stark angepasstes Kind kann Wut in sich haben. Es kann aggressive Seiten ausleben, von denen die Eltern nichts wissen. Es kann Seiten haben, die die Eltern hinter der Bravheit vielleicht nicht einmal wahrnehmen (wollen).

Jeder Mensch hat gute und schlechte Seiten. Die Summe unserer Eigenschaften macht uns zum Menschen.

 

Akzeptieren, dass sich jedes Kind anders entwickelt

Eine weit verbreitete Fehlannahme ist, dass alle Kinder sich gleich entwickeln. Jedes Kind entwickelt sich anders. Bei manchen ist es schneller. Bei anderen ist es langsamer.

Deshalb sollten Eltern akzeptieren, dass jedes Kind anders ist – auch anders, als man selbst vielleicht war. Auch wenn man selbst vielleicht mit acht Jahren schon sehr selbstständig war, heißt das nicht, dass das Kind es auch sein muss.

 

 Ausblick

Kinder sollten nicht allzu brav sein. Sie dürfen und sollen auch mal anecken. Kindliche Freiheit ist für die Entwicklung wichtig. Teil des Erwachsenwerdens ist, Fehler zu machen und daraus zu lernen.

Es ist wichtig für Kinder, sich abzugrenzen. Es ist in Ordnung für Kinder, nicht alles, was die Eltern vorgeben oder anordnen, für richtig zu befinden. Wenn die Eltern dem Kind genügend Raum geben, kann es sich entfalten. Vgl. Grenzen setzen bei Kindern – Kind hört nicht und provoziert

Man könnte die Metapher eines Schlüssels wählen: Der Geist des überangepassten Kind wird von den Eltern so „nachgemacht“, dass er exakt die Form hat, die ins Schlüsselloch der elterlichen Vorstellungen passt.

Nur wird das Kind so nicht die Tür in eine Zukunft mit authentischen eigenen Vorstellungen öffnen können. 

  • 1) familylab.de: Die Kinder werden zu überangepassten Wesen

    2) familie.de: Parentifizierung: Wenn Kinder in die Elternrolle gedrängt werden

 

Ariane Faralis

Ariane ist studierte Soziologin & hat eine eigene private psychotherapeutische Praxis. Sie verstärkt unsere Online-Redaktion mit fundierten Fachtexten und wertvollem Content. Ariane’s Motto: ”Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit” (Erich Kästner)

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