Russland und das Coronavirus

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Russlands Kampf gegen Covid-19

Vor genau einem Jahr präsentierte das Land den weltweit ersten Impfstoff. Heute kämpft es verzweifelt gegen hohe Opferzahlen.

Russland genehmigte bereits im August 2020 einen Impfstoff gegen COVID-19. Kein anderes Land war zu diesem Zeitpunkt so weit: Sputnik V wurde als weltweit erster Impfstoff zugelassen.

Man möchte annehmen, dass die russische Bevölkerung längst durchgeimpft ist. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ein Jahr später, im August 2021, sind gerade mal 19 Prozent der russischen Bevölkerung vollständig geimpft. Gleichzeitig ist die Corona-Sterberate in Russland eine der höchsten in Europa: Täglich werden mehr als 20.000 Neuinfektionen gemeldet, ein Viertel davon allein in Moskau.

Russland verfügt über ausreichende Mengen seines Impfstoffs Sputnik V. Warum schlägt Corona jetzt mit einer solchen Wucht zu? Warum wollen sich so wenige Russ*innen impfen lassen?


Die Impf-Zurückhaltung der Bevölkerung

Weil wir in Russland viele Kinderhilfsprojekte haben, haben wir die Situation einmal genauer betrachtet.

Die Situation ist mehr als ernst

Die Lebenserwartung in Russland war in den vergangenen Jahrzehnten weit niedriger als in Deutschland. In den letzten Jahren hatte es sich etwas angeglichen. Mit Corona ist nun wieder ein deutlicher Rückschritt zu erkennen und das ist dem Virus geschuldet.

Stand 16. August hat Russland 6.621.601 Coronavirus Fälle und 171.305 damit verbundene Todesfälle bestätigt.

Wahrscheinlich liegen die Dunkelziffern weit höher, bei bis zu über einer halben Million Menschen.

Die meisten Opfer gibt es jetzt. Seit Juni 2021, dem Beginn der dritten Welle, sind mehr Menschen an Covid-19 gestorben, als in der ganzen Zeit seit Beginn der Corona-Pandemie.

Seit dem 6. Juli verzeichnet das Land täglich mehr als 700 Todesfälle durch Covid-19. Am 14. August waren es innerhalb von 24 Stunden sogar 819 Menschen. Dafür gibt es mehrere Ursachen.

 

Es gab zu lange keine richtige Aufklärung

Die Corona-Aufklärung wurde anfangs sehr lasch betrieben. Schutzmaßnahmen gab es zwar. Sie wurden aber nicht sehr ernst genommen. Es gab keinen Lockdown, keinen Mindestabstand. Versammlungen in geschlossenen Räumen waren weiterhin erlaubt.

Das Leben in den russischen Metropolen verlief Corona zum Trotz fast normal weiter. Die Menschen feierten. Russland war sich sicher, das Virus besiegen zu können. Corona schien Russland lange nicht zu betreffen.

Noch im April 2021 hatten 56 Prozent der russischen Bevölkerung nicht einmal Angst, sich anzustecken. Viele weigerten sich, in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen.

Russland hat die Schwere der Lage lange nicht anerkannt. Dennoch kam das Land bislang halbwegs “glimpflich” davon. Was ist jetzt anders?


Die Delta-Variante

Es scheint, als wäre die aggressive Delta-Variante B.1.617 für den heftigen Corona-Ausbruch verantwortlich.

Bewiesen ist: Die Virus-Mutation geht mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf einher. Sie ist deutlich gefährlicher als frühere Varianten. Sie wird so leicht übertragen wie die Windpocken.

Sie hat Russland zum Umdenken gezwungen.

Die erstmals im Oktober 2020 in Indien entdeckte Mutation ist momentan in Russland mit ca. 88 Prozent aller Fälle die dominierende Variante des Coronavirus. St. Petersburg ist besonders stark betroffen.

Dennoch sind viele Menschen in Russland weiterhin spektisch. Sie wissen nicht, ob sie sich impfen lassen sollen.


Der Mangel an Vertrauen

Wenig Transparenz über den russischen Impfstoff

Als der russische Impfstoff Sputnik V zugelassen wurde, waren die Studien zu Wirksamkeit, Sicherheit und Nebenwirkungen noch nicht abgeschlossen. Nur wenige Daten und Informationen wurden veröffentlicht. Es gab Berichte und Vermutungen, dass das Vakzin nachbearbeitet wurde, dass Ergebnisse retuschiert wurden.

Russland wollte den internationalen Impfwettlauf aber gewinnen. Deshalb kam Sputnik V frühzeitig auf den Markt. Damit begann die Skepsis und Verunsicherung der russischen Bevölkerung gegen das Vakzin.


Sputnik V wirkt - medizinisch und politisch

Mittlerweile stehen den Menschen drei weitere nationale Vakzine zur Verfügung. Trotz Sputnik Light, EpiVacCorona und CoviVac bleibt Sputnik V aber das Flaggschiff.

Auch wenn wohl nach wie vor ausreichend Daten zum Impfstoff fehlen: Objektiv betrachtet kann Sputnik V mithalten. Der Vektor-Impfstoff ähnelt dem von Astrazeneca. Er wird in zwei Dosen verabreicht, im Abstand von 12 Wochen. Nach offiziellen Angaben gibt es kaum Nebenwirkungen.

Laut dem medizinischen Fachblatt „The Lancet“ hatte das Vakzin vor Delta eine Wirksamkeit von 91,6 Prozent. Bei Delta sei er immerhin zu 83 Prozent wirksam, teilte der russische Gesundheitsminister Michail Muraschko mit.

Dennoch halten viele Russ*innen Covid-19 für weniger gefährlich als das russische Vakzin: 54 Prozent der Bevölkerung wollen sich nicht impfen lassen.

Covid-19 hat gezeigt: Impfen ist mehr als eine medizinische Frage. Es ist auch eine politische Frage. Der Historiker Malthe Thießen sieht Sputnik als “Propaganda erster Klasse” (1957 startete die Sowetunion den weltweit ersten Satelliten, Sputnik 1 Anm. d. Red.).

Andere, nicht-russische, Impfstoffe werden öffentlich als gefährlich dargestellt. Russland lässt keine ausländischen Vakzine zum verimpfen zu. Ausschließlich russische Impfstoffe stehen zur Verfügung.

Nur russische Impfstoffe sind erlaubt

Das Problem dabei: Sputnik V ist international nur bedingt anerkannt. Nur in ein paar EU-Ländern wie Ungarn oder San Marino ist die Einreise möglich. Die Einreise nach Deutschland beispielsweise ist nicht erlaubt. Hier wird nur eine Impfung mit in der EU zugelassenen Impfstoffen akzeptiert. Sputnik V gehört nicht dazu.

Auch deshalb strebt Russland momentan eine EU-Zulassung an. Bis jetzt (Stand August 2021) wurde sie noch nicht erteilt.


Der russische Präsident zögerte selbst

Wladimir Putin hat lange gewartet: Ab dem 28.12.2020 hätte der damals 68-jährige russische Präsident sich offiziell impfen lassen dürfen.

Im März ließ er sich, ohne Beisein von Kameras, einen Impfstoff verabreichen. Das teilte er Ende Juni im Rahmen einer russischen TV-Show mit. Er verriet aber nicht, welchen Impfstoff er bekommen hatte. Erst Ende Juni gab Putin schließlich bekannt, dass es Sputnik V war.

Zugleich drückte er seine Dankbarkeit dafür aus, dass es bei Sputnik V keine schweren Nebenwirkungen gäbe, wie nach der Verabreichung von Astrazeneca und Pfizer.


Die Menschen wollen sich nicht impfen lassen

All dies sorgt für wenig Vertrauen und Zuversicht. Die russische Soziologin Ekaterina Borozdina glaubt: Das zögerliche Verhalten der Russ*innen beim Impfen liegt nicht an Misstrauen in die medizinische Wissenschaft. Sie sieht den Grund eher in dem negativ belasteten Verhältnis zwischen den Menschen und dem Staat.

Eine weitere Ursache sieht sie im Misstrauen gegenüber den Behörden und der Gesundheitsfürsorge.

Zu lange hatte Russland versichert, Corona im Griff zu haben. Viele Menschen haben in der Vergangenheit traumatische Erfahrungen mit medizinischen Einrichtungen gemacht. Sie glauben, es ist besser, gar nicht hinzugehen. Zudem kann eine medizinische Einrichtung eine Gefahrenquelle für eine Ansteckung darstellen.

Selbst viele russische Ärzte sind dem Impfen gegenüber skeptisch. Allerdings sehen auch sie immer häufiger schwerste Verläufe und Todesfälle selbst bei gesunden Menschen ohne Vorerkrankungen.


Plötzliche „Impfpflicht“

Offiziell besteht in Russland keine Impfpflicht. Aber die Behörden machen Druck. Zumindest in Teilen Russlands gibt es mittlerweile doch eine Art Zwang. Besonders am Arbeitsplatz wird das spürbar.

Beispielsweise in Moskau und im Gebiet um die russische Hauptstadt: Wer in Gastronomie, im öffentlichen Nahverkehr, in Kultur- und Freizeithandel, Dienstleistungen, oder in Banken, Handel und im öffentlichen Dienst tätig ist, muss sich impfen lassen.

Wer es nicht tut, wird freigestellt – ohne Gehalt. Die meisten können sich das nicht leisten. Sie können nicht auf unbestimmte Zeit auf ihr Gehalt verzichten.

Noch in diesem Sommer müssen mindestens 60 Prozent der Angestellten in Unternehmen vollständig geimpft sein. Den verantwortlichen Personen in Unternehmen, die die Vorschriften nicht umsetzen, drohen Konsequenzen: hohe Geldstrafen und vorübergehende Schließungen ihrer Unternehmen.

 

Ausblick:

Aufgrund von Corona ging die Lebenserwartung der Russen 2020 zurück: Von durchschnittlich 73, 3 Jahren auf 71,5 Jahre. Zwischen Januar und Juni 2021 starben knapp 422.000 Menschen mehr, als zur Welt kamen.

Die russischen Behörden geben deshalb alles. Sie breiten ihr Impfangebot auf Parks und Grünanlagen aus. Sie bieten kleine finanzielle Boni im Gegenzug für die Impfung an. Sie geben den Mitarbeitern einen Tag frei, um die Impfung durchzuführen. Sie organisieren Infoveranstaltungen. Sie versuchen mit allen Mitteln, die Impfraten zu erhöhen - und es scheint zu wirken.

Wir als Kinderhilfsorganisation tun weiterhin alles, was wir können. In dieser schwierigen Zeit kämpfen viele Erwachsene mit Frust und Aggression. Wieder einmal leiden die Schwächsten der Gesellschaft am Meisten: Die Kinder.


Quellen:

 1) The Conversation: Making sense of COVID-19 vacchine hesitancy in Russia: Lessons from the past and present.
2) WION: Russia records highest daily Covid deaths as people run away from vacchines
3) Tagesschau.de: Keine Impfung, kein Gehalt
4) The Moscow Times: Coronavirus in Russia: The Latest News - August 19
5) ABC News: Data suggestes Russia’s Covid-19 death toll is far higher than reported
6) Deutsche Welle: Russlands Ärzte und die Impfskepsis
7) Süddeutsche Zeitung: Weiterer Negativrekord: 819 Corona-Tote in Russland
8) Süddeutsche Zeitung: Weiterer Negativrekord: 819 Corona-Tote in Russland
9) Zweites Deutsches Fernsehen: Corona-Krise in Russland: Zuckerbrot und Impfpeitsche
10) openDEMOCRADY: Прививки не мыслятся вне государственного контекста": оценки и прогнозы вакцинации в России
11) Deutsche Welle: Russlands Ärzte und die Impfskepsis
12) Handelsblatt: “Photoshop oder würfeln”? - Westliche Forscher vermuten Betrug bei Corona-Impfstoff
13) Deutsche Welle: Russlands Ärzte und die Impfskepsis
14) BILD.de: Russen haben Angst vor “Sputnik-V”-Impfstoff
15) stern.de: Die Posse um Putins angebliche Corona-Impfung: Keiner hat’s gesehen, aber alle sollen es glauben
16) Business Insider: Delta macht Russland zu schaffen: Putin bestätigt, dass er Sputnik V geimpft bekommen hat
17) KURIER.at: 800 Corona-Tote an einem Tag in Russland: Sputnik hat das Schlimmste nicht verhindert
18) RND Redaktionsnetzwerk Deutschland: Geheimnis gelüftet: Putin wurde mit Sputnik-V geimpft
19) https://www.vienna.at/sputnik-v-zu-83-prozent-gegen-delta-variante-wirksam/7090118
20) Frankfurter Rundschau: Corona: Bevölkerung in Russland hat Angst vor Impfstoff Sputnik-V
21) BR24: Sputnik V: Wie gut ist der russische Impfstoff?
22) Berliner Zeitung: Russlands Bevölkerung schrumpft deutlich
23) GTAI Germany Trade & Invest: Impfpflicht stellt Unternehmen vor Herausforderungen

Ariane Faralis

Ariane ist studierte Soziologin & hat eine eigene private psychotherapeutische Praxis. Sie verstärkt unsere Online-Redaktion mit fundierten Fachtexten und wertvollem Content. Ariane’s Motto: ”Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit” (Erich Kästner)

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