Eltern-Kind-Entfremdung
„Mit dir will ich nichts zu tun haben“. Für Eltern ist so eine Aussage ihres Kindes extrem schmerzhaft. Wenn sie nicht wissen, woher die plötzliche Ablehnung ihres Kindes kommt, wissen sie auch nicht, wie sie darauf reagieren können und sollen. Wir erklären, was hinter dieser „Eltern-Kind-Entfremdung“ steckt und was betroffene Eltern tun können, um dem entgegenzuwirken.
Wenn sich Eltern trennen, stehen die Kinder oft zwischen den Fronten
Maikes Vater ist beruflich viel unterwegs. Am Wochenende, wenn er zuhause war, lag er oft einfach auf dem Sofa und schaute Sport, meistens Fußball. Maike spielt in der E-Jugend ihres Heimatvereins. Wenn sie am Wochenende ein Spiel hatte, hat ihr Vater sie meistens hinbegleitet. Auch zum Training, wenn er unter der Woche schon daheim war. Seit sich Maikes Eltern getrennt haben, geht Maike auf Abstand. Am Telefon spricht sie kaum mit ihm. An den Besuchswochenenden ist sie krank und kann nicht kommen. Oder sie sitzt nur rum und schaut auf ihr Smartphone. Wenn er sie fragt, was los ist, antwortet sie ausweichend. Der Vater kann sich die Ablehnung seiner Tochter nicht erklären.
Die Eltern trennen sich - und plötzlich steht ein Elternteil im “Aus”.
Eltern-Kind-Entfremdung: was ist das?
"Der Begriff Eltern-Kind-Entfremdung (engl. Parental Alienation) beschreibt ein Phänomen, bei dem ein Kind - meistens eines, dessen Eltern sich in einem konfliktbeladenen Trennungs- oder Scheidungsprozess befinden - sich stark mit einem Elternteil verbündet und eine Beziehung zum anderen Elternteil ohne legitime Begründung ablehnt."
(Lorandos, Bernet und Sauber: Parental Alienation: The Handbook for Mental Health and Legal Professionals, 2013)
Wie kommt es zu einer Eltern-Kind-Entfremdung?
Die Ursachen, die zu der Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil führen, sind vielschichtig. Aber immer manipuliert dabei ein Elternteil das Kind. Oft allerdings kommen mehrere Faktoren zusammen, die sich zu einer massiven Ablehnung verstärken. Auch die äußeren Umstände – Wohnen, Umkreis, Freunde, Großeltern – spielen eine wichtige Rolle.
Hier drei Beispiele:
Kein Vertrauen mehr?
Enttäuschte Eltern übertragen den Vertrauensverlust, den sie den Partnern gegenüber empfinden, auf das Kind.
Vertrauensverlust
Als Nadine praktisch per Zufall herausfindet, dass ihr Mann Frank sie betrügt, bricht für die junge Mutter eine Welt zusammen. Die beiden kennen sich seit der Grundschule. Frank war ihr Schulfreund und ihre erste und einzige große Liebe. Sie hatten nie Geheimnisse voreinander. Zumindest dachte Nadine das. Aber das war alles nur Lug und Trug. Stattdessen hat er schon seit Monaten eine Affäre mit einer Arbeitskollegin.
Nadine weiß: sie wird ihm nie wieder vertrauen können. Deshalb ist sie davon überzeugt, dass sie Frank auch den gemeinsamen Sohn Denis nicht anvertrauen kann. Denn wer weiß, was dann passiert? Nadine ist sich sicher, Frank ist kein vertrauenswürdiger Mensch. Sie kann ihm unmöglich die Verantwortung für den Fünfjährigen übertragen. Dieses Gefühl ist so stark, dass sie auch den Sohn davon überzeugt: du kannst dem Papa nicht vertrauen. Er wird dich im Stich lassen. Nicht vom Kindergarten abholen, dir nichts zu essen geben, dich im Schwimmbad vergessen. Besser, du gehst gar nicht erst zu ihm.
Rache
Vanessa hat sich von Matthias getrennt. Sie haben das gemeinsame Sorgerecht für die 9-jährige Tochter Sofia. Bei ihrem letzten gemeinsamen Wochenende hat Sofia ihrem Vater erzählt, dass Vanessa einen neuen Freund hat. Jetzt ist Matthias klar, warum seine Frau sich von ihm getrennt hat. Sie ist schuld daran, dass er plötzlich keine Familie mehr hat, kein gemeinsames Heim. Er fühlt sich hintergangen und verletzt. Er will, dass Vanessa sich genauso fühlt wie er. Es darf nicht sein, dass sie glücklich ist, mit Kind und einem neuen Partner, während er einsam in einer kalten Wohnung sitzt.
Rache
Wenn ein Partner sich verlassen fühlt, kann es sein, dass er dem anderen keine neue Beziehung gönnt und ihm alles wegnehmen will.
Matthias bezieht Sofia in seine Rachegedanken mit ein. Das ist gar nicht so schwer. Er malt Szenarien, in denen Vanessa wegen des neuen Freundes keine Zeit für die Tochter hat. Er prophezeit, dass die Mutter den Freund mehr lieben wird als die Tochter. Er spricht schlecht von Vanessa und erklärt, dass sie eine schlechte Mutter ist. Sofia ist hin- und hergerissen, aber ihre Eifersucht gegenüber dem Freund ist geweckt. Und sie fängt an, ihre Mutter abzulehnen. Bei jedem „Nein“ wittert sie Liebesentzug und fühlt sich zurückgesetzt. Schließlich will sie lieber bei ihrem Vater wohnen.
Verlustangst
Als Tom sich von ihr getrennt hat, hat ihr das Beziehungsaus den Boden unter den Füßen weggezogen. Julia war immer eher schüchtern und hatte kein großes Selbstvertrauen. Erst an der Seite von Tom und als Mutter von Jonas und Mia fühlte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben sicher und aufgehoben. Sie war gerne zu Hause, Tradwife war für sie kein Schimpfwort. Dann kam der Tag, als Tom ihr sagte, dass ihm das alles zuviel sei. Das Familienleben mit dem engen Raster aus Verantwortung und ewigen Erwartungen. Er wollte einfach mehr vom Leben. Frei sein.
Julia zog mit den Kindern in eine kleinere Wohnung. Das Haus war zu groß und zu leer für sie. Plötzlich sind die Tage endlos leer und gleich. Sie ist ratlos und versteht nicht, was sie falsch gemacht hat. Ihr einziger Lebensinhalt sind jetzt die beiden Kinder. Aber was, wenn Tom ihr die auch noch wegnimmt?
Verlustangst
Manchmal wird die Angst, nach der Beziehung auch noch die Kinder zu verlieren, übermächtig.
Julia hat Angst, nach ihrem Halt, ihrer Ehe und dem bisschen Selbstvertrauen auch noch ihre Kinder zu verlieren. Um das letzte Stück Geborgenheit zu schützen, versucht sie alles, um die Kinder von Tom zu entfremden. Sie lässt kein gutes Haar an ihm, und sie macht den Geschwistern Angst vor dem, was passieren kann, wenn sie bei ihrem Vater sind. Schließlich überträgt sie ihre Angst auf ihre Kinder – und nährt in ihnen die Sorge um die Mutter.
Was macht die Situation mit den Kindern?
Eine Trennung oder Scheidung ist sehr oft auch für die Kinder eine enorme Belastung
Ein Kind, das von einem Elternteil in eine Eltern-Kind-Entfremdung manipuliert wurde, leidet unter massiven psychischen und emotionalen Folgen.
Der Loyalitätskonflikt
Das Kind fühlt sich zerrissen, denn es liebt ja beide Elternteile. Nun glaubt es, sich entscheiden zu müssten. Dieser Entscheidungsdruck erzeugt großen inneren Stress.
Verlust von Urvertrauen
Wenn das Kind spürt, dass sein Gefühl, d.h. die Liebe zum entfremdeten Elternteil, und seine Wahrnehmung, z. B. die Liebe des entfremdeten Elternteils ihm gegenüber, vom anderen Elternteil systematisch angezweifelt und abgewertet wird, kann das sein Grundvertrauen in Menschen ganz allgemein und auch in sich selbst nachhaltig erschüttern. Das Kind traut weder seinen eigenen Emotionen noch denen des entfremdeten Elternteils. Misstrauen gegenüber allem und jedem kann die Folge sein.
Identitätskonflikte
Kinder definieren sich vor allem in der Zeit vor der Schule in einem beträchtlichen Maß auch über ihre Eltern. Wird ein Elternteil systematisch schlecht gemacht oder sogar dämonisiert, kann das Kind das auch auf sich selbst übertragen und glauben „Ein Teil von mir ist schlecht“.
Emotionale Abhängigkeit vom entfremdenden Elternteil
Um Liebe und Anerkennung nicht zu verlieren, übernehmen Kinder die Narrative des manipulierenden Elternteils, manchmal ganz bewusst, sehr oft aber un- oder unterbewusst. Das kann sie langfristig in ihrer Selbstständigkeit hemmen, weil sie in eine tiefe Abhängigkeit von dem Elternteil geraten, dass ihnen – vermeintlich – als einziges Sicherheit, Ehrlichkeit und Geborgenheit bietet.
Das Kind wird emotional abhängig vom entfremdenden Elternteil.
Angst- und Schuldgefühle
Auch, wenn sie sich vom manipulierenden Elternteil zur Ablehnung des anderen Elternteils bewegen lassen, bleibt ihre Liebe und ihre Sehnsucht nach dem „verbotenen“ Elternteil natürlich bestehen. Viele Kinder fühlen sich wegen dieser ungestillten bzw. unterdrückten Liebe und Sehnsucht unbewusst oder auch ganz bewusst schuldig. Das kann zunächst zu innerer Zerrissenheit und dann in der Folge zu Schlafproblemen, Schulangst bis hin zu einem totalen Rückzug führen.
Wir wirkt sich eine Eltern-Kind-Entfremdung im Erwachsenenalter aus?
Erwachsene, die als Kinder entfremdet wurden, berichten oft von Problemen in ihren Beziehungen, von Bindungsangst, Depressionen oder Schuldgefühlen gegenüber beiden Elternteilen. Im besten Fall nehmen sie diese Folgen mithilfe einer Therapie in Angriff. Wenn nicht, leiden sie unter Umständen ihr ganzes Leben lang unter dieser Entfremdung im Kindesalter.
Fachleute wie z.B. Amy Baker oder Richard Warshak haben mit ihren Studien gezeigt, dass dauerhafte Entfremdung mit ähnlichen Symptomen wie bei emotionalem Missbrauch einhergehen kann.
Die WHO stuft schwere Formen von Eltern-Kind-Entfremdung als mögliche Form von emotionaler Kindeswohlgefährdung ein.
Das ist keine Eltern-Kind-Entfremdung:
Wenn die Ablehnung eines Elternteils eine tatsächliche Ursache hat, z.B. Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung
Wenn ein Elternteil nach der Trennung von sich aus den Kontakt zum Kind abbricht
wenn das Kind nie eine Beziehung zum abgelehnten Elternteil hatte, z.B. wenn die Trennung schon während der Schwangerschaft stattgefunden hat
wenn ein Elternteil zwar versucht, den Umgang des Kinders zum anderen Elternteil zu unterbinden, das Kind selbst aber trotzdem eine positive Beziehung zum anderen Elternteil wünscht oder aufrechterhält.
Das können Eltern tun, um dem Versuch der Entfremdung entgegenzuwirken
Wenn ein Elternteil merkt, dass der andere Teil versucht, das gemeinsame Kind zu entfremden, ist das zunächst einmal eine enorme emotionale Belastung in einer ohnehin schon schwierigen Zeit, z.B. während einer Trennung oder Scheidung.
Zum Glück gibt es Strategien, die helfen können, die Beziehung zum Kind zu schützen oder wiederherzustellen, um zum Leuchtturm für das belastete Kind zu werden.
So können Eltern einer Entfremdung entgegenwirken
Den Kontakt immer aufrechterhalten, liebevoll und verlässlich, gerade dann, wenn dieser Kontakt erschwert wird – vom anderen Elternteil oder von dessen Verwandten und Freunden. Jede Form von liebevoller Präsenz zählt.
Kurze Nachrichten, Briefe, kleine Geschenke oder kreative Ideen (z. B. ein „Papa-Tagebuch“, eine Videobotschaft von Mama) zeigen dem Kind: „Ich bin da, ich hab dich lieb.“ Sollte das entfremdende Elternteil verhindern, dass das Kind die Geschenke, Briefe oder Botschaften erhält, kann in letzter Instanz das Jugendamt oder das Gericht eingreifen.
Auf keinen Fall das Kind zusätzlich belasten. Auch, wenn es schwerfällt: der entfremdete Elternteil sollte nicht mit den gleichen Mitteln „zurückschlagen“, also z.B. schlecht über den anderen Elternteil reden, versuchen, den Umgang zu verbieten oder sich mit immer größeren Geschenken die Liebe des Kindes zu sichern. Die Wirkung ist gegenteilig und verstärkt die Loyalitätskonflikte.
Sprich mit deinem Kind
Wenn du ruhig und verständnisvoll mit deinem Kind sprichst, auch über deine Gefühle, wird es dich verstehen.
Lieber intensiv mit dem Kind reden, ruhig und verständnisvoll bleiben. Mach ihm keine Vorwürfe, übe keinen Druck aus und stelle dein Kind nicht vor die Wahl. Erzähle deinem Kind stattdessen von deinen Gefühlen und versichere ihm, dass es immer geliebt wird – und zwar von beiden Elternteilen.
Das Problem ansprechen. Stehe deinem Kind gegenüber zur Trennung. Und versichere ihm, dass es nur eine Trennung von zwei Elternteilen ist, aber nie eine Trennung vom Kind. Du kannst sagen: „Wir kommen nicht mehr miteinander zurecht. Aber das hat nichts damit zu tun, dass wir deine Eltern sind. Das werden wir beide immer bleiben.“
Gemeinsame Erlebnisse anbieten. Wenn Treffen möglich sind, sollten sie zu einer positiven, stressfreien Gemeinsamzeit mit schönen Erlebnissen genutzt werden, die dem Kind Spaß machen. Vielleicht wird sogar ein Herzenswunsch erfüllt, z.B. ein Besuch im Zoo, im Theater, auf einem tollen Spielplatz. Oder gemeinsames Einkaufen, Kochen und Essen. Alles ist möglich, was die emotionale Bindung stärkt und in dem Kind schöne Momente und Erinnerungen schafft.
Gemeinsame Erinnerungen schaffen
Entfremdete Eltern sollten versuchen, mit ihrem Kind trotz und gerade wegen der angespannten Situation besonders schöne Momente zu erleben.
Kindgerecht Grenzen setzen. Wenn das Kind wiederholt abwertend oder ablehnend reagiert, z.B., indem es sagt: „Du bist schuld, Papa“, oder „Papa sagt, du bist böse, Mama“, gilt: ruhig bleiben, dem Kind die eigene Perspektive erklären, keine Schuld zuweisen oder den Spieß umzudrehen („Mama ist schuld.“ Papa ist böse“). Aber trotzdem Grenzen setzen und den Vorwurf ansprechen. Zum Beispiel, indem du sagst: „Ich verstehe, dass du wütend oder traurig bist. Ich bin trotzdem für dich da. Ich hab‘ dich lieb.“
Psychologische Unterstützung suchen. Eine familienpsychologische Beratung oder Mediation kann helfen, dem Kind wieder Kontakt zu beiden Elternteilen zu ermöglichen. Das kann auch vom Jugendamt oder vom Gericht unterstützt werden.
Beratung suchen
Unter Umständen solltest du dir ruhig Beratung oder Unterstützung holen. Z.B. bei einer Psychologin oder einem Psychologen.
Dokumentation führen. Notiere Auffälligkeiten, Gesprächsverläufe, Kontaktabbrüche, Aussagen des Kindes etc. Diese Informationen sind bei Gerichts- oder Jugendamtsterminen wichtig – aber nur, wenn sie mit Datum versehen und sachlich gehalten sind. Vermeide hier unbedingt Emotionen, es geht nur um Fakten.
Geduld & Stabilität zeigen. Kinder können sich mit der Zeit auch von selbst wieder annähern, wenn sie spüren, dass ein Elternteil verlässlich, liebevoll und nicht abwertend ist – auch wenn sie gerade innerlich gespalten sind.